Nordhausen. John Kanders Musical „Cabaret“ in Nordhausen: Ivan Alboresi inszeniert und choreographiert eine sehr dichte und kluge Aufführung.

Sie singen, auf der Verlobungsfeier der Zimmerwirtin Fräulein Schneider mit dem jüdischen Obsthändler Schultz, diese eingängige Walzermelodie unter Volksliedmaske zunehmend inbrünstig und wie im Stechschritt: „Sammelt euch alle, ein Sturm ist nah“. Wenig später entlobt sich das Fräulein (Brigitte Roth) ängstlich und singt, der Rolle und Situation angemessen, brüchig und angekratzt: „Bricht der Sturm erst einmal los, wie geht‘s weiter?“

Nun, jedenfalls wohl nach dem Lebensprinzip „Augen zu und durch“, dem auf Bühnen das „The show must go on“ entspricht oder auch einfach ein „Der Lappen muss hochgehen“. Womit der Vorhang gemeint ist.

Wenn sie am Ende des ersten Aktes jenes Deutschtümelei zitierende „Der morgige Tag ist mein“ schmettern, fällt der rote Lappen jedoch: der mit dem Hakenkreuz. Er bleibt die Pause über hängen, bis der Conférencier zu Beginn des zweiten Aktes ihn schließlich entschlossen runterreißt.

Das verursacht im Nordhäuser Premierenpublikum nicht weniger Applaus und Jubel als viele der Gesangsnummern, die das Musical „Cabaret“ zu bieten hat und die sie hier frisch, ganz unverbraucht darbieten.

Dieses Werk von John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff folgte 1966 den Gesetzen des Broadway und konterkarierte sie zugleich. Es diente der leichten Unterhaltung und zwang dazu, sich danach mal ernsthaft unterhalten zu müssen. Es stellte die Show ins Leben und das Leben in die Show, setzte beide in eins und zog zugleich flirrende Trennlinien.

Ivan Alboresi, Nordhausens Ballettdirektor und Fachmann fürs Musical in Personalunion, hat das so gut verstanden wie wenige im deutschen Stadttheater, auf dessen Spielplänen „Cabaret“ bis heute eine immer wiederkehrende Option ist. Er verstand, dass der Titelsong nicht „Cabaret is the Life“ heißt, sondern „Life is a Cabaret“. Wenn ihn die Sally Bowles der Eve Rades tränenverschmiert und tapfer lächelnd singt, ist alles drin: alles Schwere, alle Leichtigkeit, aller Schmerz, aller Trotz, aller Dreck, aller Glanz. Alles bricht raus.

So inszeniert Alboresi das ganze Musical, zusammen mit dem vorzüglichen Ausstatter Mike Hahne. Beider Rahmen ist sichtbar nicht der Kit-Kat-Club, sondern die Straße: in Berlin 1929/30. Sie lassen nicht grauen Alltag hinter Glitzerfassaden des Vergnügungslokals hervortreten, sie stellen die Scheinwelt in und hinter graue Häuserfassaden des Seins, wo die Stufen zur Showtreppe werden.

Hier spielt die Musik! Eine Kapelle des Loh-Orchesters wohnt gleichsam im ersten Stock, spielt hinter der Fassade, die hoch- und runtergelassen wird, und sorgt unter Henning Ehlert für schmissige und jazzige, für transparente und filigrane Klänge.

Bilder von „Cabaret“ im Theater in Nordhausen

Eve Rades als Sally Bowles und die Kit Kat Klub-Girls während der Fotoprobe für  Cabaret  im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Eve Rades als Sally Bowles und die Kit Kat Klub-Girls während der Fotoprobe für Cabaret im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
David Arnsperger als Conférencier und Dominic Bisson als Gorilla-Mädchen. Foto: Marco Kneise
David Arnsperger als Conférencier und Dominic Bisson als Gorilla-Mädchen. Foto: Marco Kneise © zgt
Eve Rades als Sally Bowles. Foto: Marco Kneise
Eve Rades als Sally Bowles. Foto: Marco Kneise © zgt
David Arnsperger als Conférencier und die Kit Kat Klub-Girls. Foto: Marco Kneise
David Arnsperger als Conférencier und die Kit Kat Klub-Girls. Foto: Marco Kneise © zgt
David Arnsperger als Conférencier. Foto: Marco Kneise
David Arnsperger als Conférencier. Foto: Marco Kneise © zgt
Marian Kalus als Clifford Bradshaw und Eve Rades als Sally Bowles während der Fotoprobe für  Cabaret  im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Marian Kalus als Clifford Bradshaw und Eve Rades als Sally Bowles während der Fotoprobe für Cabaret im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
Thomas Kohl als Herr Schulz und Anja Daniela Wagner als Fräulein Schneider. Foto: Marco Kneise
Thomas Kohl als Herr Schulz und Anja Daniela Wagner als Fräulein Schneider. Foto: Marco Kneise © zgt
Thomas Kohl als Herr Schulz und Anja Daniela Wagner als Fräulein Schneider im Theater Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Thomas Kohl als Herr Schulz und Anja Daniela Wagner als Fräulein Schneider im Theater Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
Thomas Kohl als Herr Schulz im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Thomas Kohl als Herr Schulz im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
Carolin Schumann als Fräulein Kost im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Carolin Schumann als Fräulein Kost im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
Eve Rades als Sally Bowles im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Eve Rades als Sally Bowles im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
Fotoprobe für  Cabaret  im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise
Fotoprobe für Cabaret im Theater in Nordhausen. Foto: Marco Kneise © zgt
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Anders als jüngst in Geras „Cabaret“ (ab Herbst in Altenburg), holt Nordhausen das Äußere nicht nach innen, sondern das Innen nach draußen. So sehen wir Figuren beim Scheitern zu, wenn sie das Außen (das Öffentliche, Politische) auf privater Glückssuche ausblenden.

David Arnspergers Conférencier ist der melancholisch-parodistische Wanderer zwischen den Welten. Er begibt sich hier wie dort mitten hinein in die Lebens- und Überlebenskämpfe, und wahrt dabei den Blick darauf.

Oft genug wird die Rolle als dämonischer Verführer verstanden. Arnsperger ist stets mehr und anders als er zu sein vorgibt. Er beginnt den Abend in Dompteurs- und beendet ihn in SS-Uniform; die Ironie bricht jede Erscheinung. Sein Conférencier ist keine Kopie, er ist ein Original.

„Cabaret“, das ist sozusagen „Babylon Berlin“ mit den Mitteln des Musicals: ein gut gebautes Panorama und Panoptikum glanzvoller Verelendung, in das sich der Nationalsozialismus langsam einschleicht.

Dafür sorgen in Nordhausen ein singendes Ballett, ein munterer Opernchor sowie auf den Punkt besetzte Solisten. Brigitte Roth und Thomas Kohl sind das linkische ältere und verhinderte Liebespaar Schneider/Schultz, das zarte Bande knüpft und sich traurig dreinschickt in das Grobe, das auf sie alle zukommt. Marian Kalus spielt sich als mittelloser Schriftsteller Cliff aus Amerika in eine Fassungslosigkeit, aber auch Selbstgerechtigkeit hinein, mit der er Zustände und Umstände betrachtet. Er trifft auf eine überspannte Sally, bei der Eve Rades sichtbar werden lässt, wie sie die verlorene Seele überspielt.

Das ist, auch dank origineller Choreographien, eine dichte Aufführung. Sie steht für das Leben als gut geölte Showmaschine ebenso wie für das Stottern, in das sie geraten muss.

Die nächsten Aufführungen: 9., 10., 11., 23., 24. und 26. Mai