Marco Alles blättert in der Geschichte des Oberhofer Biathlon-Weltcups

Er wischte. Erst vorsichtig, dann immer kräftiger. Doch der Blick nach draußen blieb verschwommen. Ein paar Schmunzler der Kollegen später lachte auch der Neuankömmling. Nicht die Fensterscheiben des Medienzentrums waren beschlagen, sondern Nebel hatte sich über das Stadion gelegt. Wo eine halbe Stunde zuvor noch klare Sicht herrschte, war nun alles grau. Oberhof machte seinem Ruf wieder einmal alle Ehre.

Der Nebel kommt und geht, wie es ihm beliebt. Mal mit Ansage, meistens ohne. Und er ärgert die Biathleten, seitdem der Weltcup 1984 erstmals Station am Rennsteig machte. Es gab Rennen, die für Tausende Fans auf den Tribünen zur Hörprobe wurden. Weil dichte Schwaden die Arena einhüllten, waren die Treffer am Schießstand nur am Klacken der Scheiben zu identifizieren. Dennoch wurde gejubelt, gesungen und geklatscht. Bis der Letzte die Ziellinie passierte.

Auch für Wolfgang Filbrich, Organisationschef von 2000 bis 2012, war der Nebel stets die große Unbekannte in der Weltcup-Rechnung. Wetterprognosen wurden seziert, alte Bauernkalender studiert und sogar der Aberglaube bemüht. In seinem Team durfte das verpönte Wort nicht mehr in den Mund genommen werden. Stattdessen spricht man in Oberhof auch heute noch gern von „aufliegenden Wolken“.

Doch ein Synonym taugt eben nicht als Zauberspruch. Zweimal musste ein Wettkampf wegen den „Waschküchen“-Verhältnissen abgesagt werden; einer davon während der WM 2004. „Das war eine der schwersten Entscheidungen“, blickt Filbrich auf das damalige Männer-Einzel zurück. „Wir wussten ja nicht, wie die 20.000 Menschen reagieren würden.“ Aus Angst, das „Haus des Gastes“ könnte von erbosten Zuschauern mit Ticket-Rückforderungen überrannt werden, sicherten zusätzliche Ordnungskräfte das Gebäude ab. Glücklicherweise blieb alles friedlich. Und das Rennen konnte am nächsten Tag nachgeholt werden.

Oberhofs Biathlon-Geschichte hat aber noch viel mehr Facetten. Darja Domratschewa, viermalige Olympiasiegerin und Ehefrau von Ikone Ole Einar Björndalen, steuerte ungewollt zwei Kapitel bei. 2009 kam sie im Massenstart als Führende an den Stand. Statt liegend visierte sie die Ziele im Stehen an: fünf Fehlschüsse, zehn Strafminuten, Aufgabe. Fast auf den Tag genau ein Jahr später blamierte sich die Weißrussin erneut, als sie wieder an der Spitze liegend auf die Scheiben der benachbarten Bahn schoss. Verständlich, dass sie seitdem ein eher unterkühltes Verhältnis zur Thüringer Wintersport-Hochburg pflegt.

Dort machten immer wieder tückische Winde und fieser Nieselregen Athleten wie Besuchern zu schaffen. Und über allem schwebte stets die Sorge um den Schnee. „Das war jedes Jahr unser größer Kampf“, bestätigt Filbrich und beneidet seine Nachfolger um die moderne Technik und die großen Depots. In seine Ära fiel noch echte Handarbeit: Als unzählige Helfer das kostbare Weiß in den Wäldern auf Transporter schaufelten, um damit die Strecke zu belegen. Oder als sie nach einem halben Meter Neuschnee über Nacht erst kurz vor der Stadionöffnung die Tribünen freigeräumt hatten.

Deutschlandweite Aufmerksamkeit erfuhr der langjährige Cheforganisator allerdings als Eis-Einkäufer. Rund 80 Lkw-Ladungen ließ er 2007 von Bremerhaven an den Grenzadler bringen. Geschreddertes Eis, das sonst zur Kühlung von Fisch auf Schiffen genutzt wird, rettete das Spektakel im letzten Moment. Ein Schachzug, der knapp 300.000 Euro kostete und nicht nur deshalb in die Kritik geriet. Vor allem Klimaschützer prangerten damals die Umweltverschmutzung an.

Viel gibt es nicht, was Oberhof noch nicht erlebt hat. Die zuschauerlosen Wettbewerbe ab diesem Freitag sind jedoch eine Premiere. Wo sonst die bunte Masse pulsiert und Athleten mit Ohrenstöpseln den Birxsteig hinaufklettern, um sich vor der lautstarken Anfeuerung abzuschotten, da wird diesmal Stille herrschen. Nie gab es einen leiseren Weltcup. Auch damit muss man erst einmal klarkommen.