Berlin/Lagos. Bei Protesten gegen Polizeigewalt in Nigeria sind mindestens 69 Menschen gestorben – erstmals gestand Präsident Buhari dies jetzt.

Militär auf den Straßen der Hauptstadt Abuja, blutige Unruhen in der Wirtschaftsmetropole Lagos – die Protestaktionen gegen Polizeigewalt in Nigeria verlaufen zunehmend brutal. Seit zwei Wochen kommt es bei den Demonstrationen immer wieder zu Ausschreitungen. Erstmals hat Nigerias Präsident Muhammadu Buhari jetzt in einer Mitteilung eingestanden, dass dabei zahlreiche Menschen starben.

In den vergangenen Tagen seien bei den Protesten 51 Zivilisten, elf Polizisten und sieben Soldaten gestorben, hieß es in einer Mitteilung von Freitagabend. Der Präsident betonte, dass die Sicherheitskräfte von Demonstranten umgebracht worden seien – wer für den Tod der Zivilisten verantwortlich ist, sagte er jedoch nicht.

Die Proteste in der Wirtschaftsmetropole Lagos waren eskaliert, nachdem am Dienstag Sicherheitskräfte an einer Mautstelle auf Demonstranten schossen. Trotz einer 24-stündigen Ausgangssperre kam es an den folgenden Tagen zu gewalttätigen Ausschreitungen. Erst am Freitag beruhigte sich die Lage wieder. Die Ausgangssperre hatte der Gouverneur des Bundesstaates Lagos wegen „zunehmender Anarchie“ verhängt. Auch wichtige Straßen waren gesperrt worden.

Nigeria: Präsident Buhari ermahnt Demonstranten

Berichten zufolge setzten wütende Jugendliche Autos und Regierungsgebäude in Brand. Menschen hätten Straßen blockiert und Gebäude geplündert und zerstört. Auch von einem Gefängnis aus seien Schüsse zu hören gewesen, sagte ein Anwohner.

In einer Ansprache an die Nation hatte Präsident Buhari zuvor die Demonstranten ermahnt, sich nicht von „subversiven Elementen“ ausnutzen zu lassen. Dies zu tun würde die nationale Sicherheit und Recht und Ordnung untergraben. „Unter keinen Umständen wird das toleriert.“ Die Gewalt von Sicherheitskräften gegen Demonstranten erwähnte er nicht.

Elitepolizisten töten jungen Mann – Video löst Proteste aus

Die Proteste gegen Polizeigewalt hatten am 8. Oktober begonnen. Sie richten sich gegen die Eliteeinheit Special Anti-Robbery Squad (SARS) und heißen daher #EndSARS. In sozialen Medien kursierte ein Video, das einen SARS-Beamten beim Töten eines jungen Mannes zeigte. Die Einheit wurde inzwischen aufgelöst. Die Demonstranten fordern nun weitrechende Polizeireformen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte, die Polizei gehe mit Tränengas, Wasserwerfern und scharfer Munition gegen die Demonstranten vor. „Menschen, die ihr Recht auf Protest ausüben und ein Ende der Polizei-Brutalität fordern, werden selber brutal behandelt und belästigt durch diejenigen, die sie eigentlich schützen sollten.“

Nigeria, Lagos: Demonstranten stehen auf einer Straße als die Polizei Tränengas einsetzt. Nach anhaltenden Protesten gegen Polizeigewalt haben die Behörden in Lagos eine 24-stündige Ausgangssperre verhängt.
Nigeria, Lagos: Demonstranten stehen auf einer Straße als die Polizei Tränengas einsetzt. Nach anhaltenden Protesten gegen Polizeigewalt haben die Behörden in Lagos eine 24-stündige Ausgangssperre verhängt. © dpa | SUNDAY ALAMBA

Die Regierung hatte zunächst bestritten, dass Menschen bei dem Protesten gestorben sind. Der öffentliche Druck wurde jedoch immer größer. So teilte Amnesty International mit, die Organisation habe „glaubwürdige, aber verstörende Hinweise auf exzessive Gewaltanwendung erhalten, die zum Tode von Demonstranten an der Lekki-Mautstelle in Lagos führten.“ Amnesty erinnerte die Behörden daran, dass tödliche Gewaltanwendung der Sicherheitsbehörden nur in wenigen Extremfällen erlaubt sei.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, sprach von exzessiver Gewalt mit scharfer Munition, die im Verlust von Menschenleben mündete: „Berichte, dass Überwachungskameras und Beleuchtung vor der Schießerei vorsätzlich abgeschaltet wurden, sind noch verstörender; denn wenn es sich bestätigt, lässt das darauf schließen, dass diese beklagenswerte Attacke auf friedliche Demonstranten vorsätzlich geplant und koordiniert war.“

Angreifer befreien fast 2000 Häftlinge

Im Zusammenhang mit den Unruhen war eines der größten Gefängnisse in Nigeria in Lagos am Donnerstag in Brand gesteckt worden. Bereits am Dienstag hatten Angreifer ein Gefängnis in der Stadt Benin gestürmt und knapp 2000 Insassen befreit. Die Angreifer hätten angegeben, Teil der Proteste gegen Polizeigewalt zu sein.

Ein Sprecher des nigerianischen Innenministeriums erklärte zur Identität der Häftlinge: „Die meisten der in den Zentren inhaftierten Insassen sind verurteilte Kriminelle, die wegen verschiedener Straftaten inhaftiert sind und auf ihre Hinrichtung warten oder wegen Gewaltverbrechen vor Gericht stehen.“

Ausschreitungen in der nigerianischen Metropole Lagos: Ein ausgebranntes Auto steht vor einem Haus, an dessen Fassade Ruß zu sehen ist.
Ausschreitungen in der nigerianischen Metropole Lagos: Ein ausgebranntes Auto steht vor einem Haus, an dessen Fassade Ruß zu sehen ist. © dpa | SUNDAY ALAMBA

Die Proteste gegen die Polizeigewalt findet weltweit Unterstützung. So gab es etwa in London eine Demonstration. Die international bekannte nigerianische Autorin Adichie verurteilte die Gewalt in ihrer Heimat aufs Schärfste. „Der einzige Grund, in eine Menschenmenge friedlicher Zivilisten zu schießen, ist es, zu terrorisieren“, schrieb sie in der „New York Times“. „Der nigerianische Staat hat sich gegen seine Bürger gewandt.“

Die britische Zeitung „The Guardian“ merkte in einem Kommentar an: „Die Schüsse an der Lekki-Mautstelle deuten darauf hin, dass eine Aktion, bei der es um das Vorgehen der Polizei ging, nun aufgrund einer tiefer liegenden Wut über die Behandlung der Bürger durch den Staat in regierungsfeindliche Proteste umschlägt.“

Im weiteren Sinne würden die Menschen die Reaktion des Staates mit dessen Versagen bei der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse in Verbindung bringen: „Die steigende Arbeitslosigkeit, die durch die Corona-Pandemie noch verschlimmert wurde, hat die Wut geschürt.“

Die Zeitung kritisiert in diesem Zusammenhang den südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, der Vorsitzender der Afrikanischen Union (AU) ist, und Ghanas Präsident Nana Akufo-Addo, Vorsitzender des westafrikanischen Staatenbündnisses Ecowas.

Die Staatschefs hätten sich zwar nachdrücklich zum Tod von George Floyd geäußert, der in den USA bei einem brutalen Polizeieinsatz starb. „Sie scheinen aber weniger daran interessiert zu sein, die Polizeibrutalität in ihrer Nachbarschaft anzusprechen“, so der Kommentar. Die Nigerianer hätten jedoch gute Gründe für ihre Proteste. „Sie müssen beschützt werden.“ (aky/dpa)