Selenskyj kommt nach Berlin und bedankt sich bei den Deutschen. Wie der Besuch des meistgefährdeten Staatsmanns Europas bisher verlief.
Als das Musikkorps der Bundeswehr die ukrainische Nationalhymne spielt, legt sich Wolodymyr Selenskyj die rechte Hand aufs Herz. Der ukrainische Präsident trägt einen schwarzen Pullover, olivgrüne Militärhosen und schwarze, feste Stiefel. Die ernste Lage seines Landes ist ihm ins Gesicht geschrieben, als er an der Seite von Olaf Scholz (SPD) vor dem Kanzleramt den roten Teppich abschreitet. Selenskyj geht breitbeinig, die Last auf seinen Schultern ist seiner Körperhaltung anzusehen. Er ist ein Mann im Krieg.
Selenskyj dankt "dem gesamten deutschen Volk"
„Seit 444 Tagen läuft der erbarmungslose russische Angriffskrieg gegen dein Land“, spricht Scholz wenig später bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem Gast aus, was Selenskyj zeichnet.
Die ukrainische Flagge ist im Hof des Kanzleramts gehisst. Sie flattert im Morgenwind leicht hin und her. Die deutsche Flagge flattert auf dem Mast links daneben, die Europafahne zur Rechten. Nach seiner nächtlichen Ankunft in Berlin hatte Selenskyj getwittert, worum es ihm in Deutschland geht: Waffen, Luftverteidigung, Wiederaufbau, EU, Nato, Sicherheit. Die Zukunft und die Sicherheit seines Landes sieht er in Europa, in der Nato.
Selenskyj ist aber auch gekommen, um sich zu bedanken. Bei dem „gesamten deutschen Volk“ für die Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen, für die Unterstützung mit Waffen, „für jedes gerettete ukrainische Leben“: „Danke für jede Mutter und jedes Kind, das sie gerettet haben“, sagt der Ukrainer an die Deutschen gerichtet. Bei Olaf Scholz bedankt sich Selenskyj für seine „Führungskraft“. Der Kanzler verspricht: „Wir unterstützen euch so lange, wie es nötig sein wird.“
Selenskyj: Deutschland "unser wahrer Freund"
Vor dem Empfang im Kanzleramt war der ukrainische Staatschef am Morgen bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue. Die Beziehung zwischen Selenskyj und Steinmeier war nicht immer einfach. Grund war Steinmeiers frühere Haltung zu Russland in seiner Zeit als Außenminister - er galt als Russlandfreund. Eine im April 2022 geplante Reise trat der Bundespräsident nicht an, er war in Kiew nicht erwünscht. Steinmeier bekannte Fehler und Fehleinschätzungen in seiner Politik gegenüber Russland.
Ins Gästebuch im Schloss Bellevue schreibt Selenskyj an diesem Tag: „In der schwierigsten Zeit in der modernen Geschichte der Ukraine hat sich Deutschland als unser wahrer Freund und verlässlicher Verbündeter erwiesen, der im Kampf für die Verteidigung von Freiheit und demokratischen Werten entschieden an der Seite des ukrainischen Volkes steht.“ Selenskyj schreibt weitgehend auf Englisch, auf Deutsch fügt er hinzu: „Danke Deutschland!“
Selenskyj in Berlin: Präsident gibt sich Siegesgewiss
Selenskyj weiß, dass Teile der deutschen Bevölkerung ihn gerne früher als später mit Putin am Verhandlungstisch sähen. Alle wollten, dass dieser Krieg so schnell wie möglich ende: „Aber er muss zu Ende gehen mit einem gerechten Frieden“, sagt Selenskyj und bekommt dafür die Unterstützung des Kanzlers. Der ukrainische Gast verweist auf die geplante Gegenoffensive und übt sich in Optimismus: „Bereits in diesem Jahr rechnen wir damit, dass dieser Krieg zu Ende geht und wir die Niederlage des Aggressors besiegeln können.“
Dies ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Besuch. An der Pressekonferenz von Scholz und Selenskyj nahmen auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) sowie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sowie der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba als Beobachter teil. Ein solches Publikum ist selbst im Kanzleramt selten. Politisch, aber auch hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen ist dieser Tag außergewöhnlich.
Selenskyj in Deutschland: Eurofighter schützen seine Anreise
Selenskyj war um kurz nach Mitternacht in Berlin gelandet. Ein Flieger vom Typ A319 der deutschen Luftwaffe hatte ihn in Rom abgeholt, wo Selenskyj am Samstag Regierungschefin Giorgia Meloni, Staatspräsident Sergio Mattarella und Papst Franziskus getroffen hatte. Im deutschen Luftraum eskortierten zwei Eurofighter der Luftwaffe den Flieger nach Berlin.
Für den Besuch galten die höchsten Sicherheitsstandards: Am Morgen kreisen Hubschrauber über dem Regierungsviertel. Die Straßen rund um das Kanzleramt sind weiträumig abgesperrt, Zutritt gibt es nur mit speziellen Ausweisen. Anwohner wurden im Vorfeld von der Polizei gewarnt. Der Schiffsverkehr auf der Spree ist gesperrt. Die üblichen Ausflugsdampfer dürfen das Kanzleramt an diesem Frühsommersonntag nicht passieren. Auf dem Dach des Kanzleramts waren Scharfschützen positioniert. Selenskyj gilt als der meistgefährdete Staatsmann Europas.
Die Visite des ukrainischen Präsidenten in Berlin ist die erste in Deutschland seit dem russischen Angriff im Februar 2022. Seitdem waren die Beziehungen zwischen Berlin und Kiew oft abgespannt, besonders in den ersten Monaten des Kriegs. Die Ukraine fühlte sich von dem größten Land der EU oft zu wenig, zu langsam unterstützt. Die Stimmung zwischen Berlin und Paris verbesserte sich zudem in dem Maße, in dem Deutschland die Waffenlieferungen an die Ukraine ausweitete.
An die Waffenlieferungen musste Scholz sich rantasten. Inzwischen liefert seine Regierung umfangreich Rüstungsgüter, darunter auch schwerstes Gerät. Anlässlich des Selenskyj-Besuchs kündigte die Bundesregierung an, die militärische Unterstützung für das Land massiv aufzustocken.
Deutschland liefert Waffen: Selenskyj will Jets
Die neue Zusage im Wert von 2,7 Milliarden Euro enthält schwerste Waffen, das Paket der militärischen Unterstützung ist das größte, das die Bundesregierung bisher geschnürt hat, um der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Angriffstruppen von Wladimir Putin zu helfen. Deutschland habe insgesamt mehr als elf Milliarden Euro für 2023 und darüber hinaus vorgesehen, um die militärische Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der beiden Länder, die am Sonntag veröffentlich wird.
Als „kraftvoll“ lobt Selenskyj das neue Paket. „Der Umfang der deutschen Hilfe ist der zweitgrößte nach den USA, das ist sehr, sehr viel.“ Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz wird der ukrainische Präsident gefragt, ob ihm die deutsche Militärhilfe nun ausreiche.
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„Ich denke, wir werden daran arbeiten, dass wir Deutschland auf den ersten Platz bringen“, antwortet Selenskyj. Scholz lächelt. Selenskyj hat aber auch eine Forderung mitgebracht: Er wolle in Europa eine „Kampfjet-Koalition“ für die Ukraine auf die Beine stellen, sagt er und kündigt an, auch Deutschland um Hilfe zu bitten. Scholz reagiert zurückhaltend.
Es gibt weitere Themen, bei denen Selenskyj auf deutsche Unterstützung wartet: Das betrifft etwa die politische Unterstützung Deutschlands für einen baldigen Beitritt des Landes zur Europäischen Union und zur Nato. Scholz bleibt bei der gemeinsamen Pressekonferenz klare Zusagen schuldig. Es gab aber noch mehr Gelegenheit zur Diskussion: Im Anschluss an eine Sitzung des deutschen Sicherheitskabinetts im Kanzleramt mit Selenekyj als Gast wollten Scholz und der ukrainische Staatschef gemeinsam zur Verleihung des Karlspreises nach Aachen fliegen.
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