Berlin. Das neue Album der einstigen Krach-Pioniere Einstürzende Neubauten klingt zugänglich, fast versöhnlich. Die Songs haben Berlin-Bezüge, seien aber kein “Kommentar“ zu seiner Heimatstadt, wie Frontmann Blixa Bargeld im dpa-Interview betont.

Vor 40 Jahren startete die Berliner Band Einstürzende Neubauten mit krachigen Avantgarde-Industrial-Sounds. Heute zählt sie auch international zu den Ikonen deutscher Rockmusik neben Kraftwerk und Can.

Die Deutsche Presse-Agentur sprach mit dem Frontmann Blixa Bargeld (61) über ein Jubiläum in Corona-Zeiten, das neue Album "Alles in Allem" (Veröffentlichung: 15. Mai) sowie Gegenwart und Zukunft der Neubauten als hoch anerkannte Band gereifter Männer.

Frage: Am 1. April sind die Einstürzenden Neubauten 40 Jahre alt geworden. Sie hatten so einiges geplant, bevor Corona kam. Was kann aus diesem seltsamen Jubiläumsjahr für die Neubauten noch werden?

Antwort: Die Situation, so wie sie jetzt ist, hat sich noch vor ein paar Wochen ja keiner ausmalen können. Das Jubiläum wollten wir gar nicht an die große Glocke hängen. Die Krönung - also "Corona" - wären eine Generalprobe in Potsdam gewesen und ein Auftritt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Wir hatten eine Neubauten-spezifische Busrundfahrt geplant, einen "Art-Crawl" durch die Berliner Galerien, und wir hatten das Hansa-Studio gemietet, um ein Public Listening zu veranstalten - all das mit unseren Supportern.

Frage: Und das kann nun wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden?

Antwort: Allein für die Konzerte in Potsdam und Berlin haben sich 500 unserer Unterstützer aus aller Welt angemeldet, die hatten schon ihre Flüge und Hotels gebucht. Das fällt jetzt alles ins Wasser, und das ist natürlich extrem bitter. Die Tour ist verschoben auf 2021, aber diese besonderen Festivitäten können wir nächstes Jahr nicht einfach nachholen. Jetzt sitzen wir alle zuhause und produzieren "Content". Der landet dann zuerst auf der Neubauten-Webseite, Teile davon ziehen weiter Richtung Instagram und Youtube. Alles geht seinen digitalen Gang, könnte man sagen.

Frage: Inwieweit sind Sie persönlich betroffen? Wie gehen Sie selbst als Mensch im Alltag mit der Krise und ihren Auswirkungen um?

Antwort: Ich bin sehr vorsichtig. Heute, im April, ist das, glaube ich, mein 36. Tag in Quarantäne. Mein Immunsystem ist mehr oder weniger nicht existent, deswegen begebe ich mich nicht in ein Risiko. Ich sitze also auch nur zuhause und erzeuge "Content" (lacht). Wahrscheinlich war ich noch nie 36 Tage am Stück zuhause. Doch, vor ein paar Jahren hatte ich mir mal das Bein gebrochen, als ich beim Konzert in Rom von der Bühne gefallen bin. Danach war ich auch nicht so viel unterwegs.

Frage: Lassen Sie uns über Ihr neues Album sprechen. Wie schafft man es nach 40 Jahren immer noch, eine Platte von solcher Dringlichkeit und Zeitgeistigkeit zu machen, die auch noch zugänglich ist? Bietet Ihr Stück "Möbliertes Lied" dafür den Schlüssel?

Antwort: "Möbliertes Lied" war das erste Stück der Phase 4 unseres Supporter-Projekts, mit dem wir ja 2002, damals in Phase 1, praktisch das Crowdfunding erfunden haben. Das Resultat einer anfänglichen Improvisation wurde also "Möbliertes Lied". Das Stück war bei mir in einem Hefter unter "Kleinere Ideen" gelistet. Diesen Hefter habe ich für unsere Improvisationen immer dabei, und wie man sieht, ist das Stück dann bis zum Schluss erhalten geblieben. Es ist ein Spiel mit Metaphern, ein Spiel mit Worten. Also ich sehe das Lied nicht als sehr tief an - eher als heiter.

Frage: Der Albumtitel "Alles in Allem" klingt zusammenfassend, bilanzierend. Ist diese Platte insofern eine Art Bilanz des Schaffens Ihrer Band - oder ein Abschluss vor einem neuen Kapitel?

Antwort: "Alles in Allem" ist ja eine gebräuchliche rhetorische Figur, das ist hier gar nicht im Sinne von "Summa Summarum" gemeint. Sondern eher symbolisch: Alles ist in allem, so ungefähr. Wir haben das Stück und mehrere andere des Albums mit unserem Karten-Interpretations-System "Dave" gemacht. Der Song kam dann letztlich von jemandem, der nachts nicht geschlafen hatte und morgens übersensibel war. So entwickelte sich aus einem nicht funktionierenden Ambient-Anfang ein veritables Lied.

Frage: Ihre Worte kreisen schon in den Songtiteln um Berlin, stärker als je zuvor. Die Stadt ist in Ihren neuen Texten so präsent wie nie, ganz direkt mit "Grazer Damm", "Wedding", "Tempelhof" und "Am Landwehrkanal". Wie kam es dazu?

Antwort: Ich wurde am Anfang dieser Arbeit gefragt: Gibt es irgendein Thema, ein Konzept? Da habe ich gesagt: Vielleicht geht es um Berlin. Dann gab es ein Stück "Welcome To Berlin", an dem wurde lange gearbeitet, aber letztlich haben wir es bei der Qualitätsendkontrolle aussortiert. Es war zu dünn und zu auch missverständlich, weil ich da einfach einen Kübel Galle ausgekippt habe. Übrig blieben diese ganzen anderen Querreferenzen zu Berlin, die sich im Laufe der Zeit schon entwickelt hatten. Man kann das Album aber nicht als Kommentar zu Berlin lesen, es werden letztendlich keine Aussagen über diese Stadt getroffen.

Frage: Stimmt der Eindruck, dass das ein zeitloses Berlin ist? Manche Textzeilen wie in "Grazer Damm" könnten ja in den 20er Jahren angesiedelt sein oder auch im Heute.

Antwort: Am Grazer Damm in Berlin bin ich aufgewachsen, meine Schwester lebt da immer noch. Das Stück ist halb autobiografisch: Darin steckt ein Traum, der am Grazer Damm spielt, davor und danach gibt es aber auch realistische Splitter. Und die beschriebene Explosion ist etwas, das ich selbst miterlebt habe: Da hat jemand mit einem Gasherd Suizid begangen und dabei die Fassade weggesprengt.

Frage: "Alles in Allem" ist geprägt von Ruhe, schönen Streichern, Harfe, wenig Krach oder Schreien. Eine sehr songorientierte, sehr melodische Neubauten-Platte, oder überhöre ich da etwas?

Antwort: Wir werden alle älter (lacht). Und eines kann man über die Neubauten sicher sagen: Wir wiederholen uns nicht allzu viel. Wenn wir so etwas wie "Kollaps" von 1981 ewig betrieben hätten, wäre es schon ein langweiliges Leben geworden. Bei "Lament" von 2014 habe ich eines gelernt - mehr Platz zu lassen. Das war ja nicht als Album konzipiert, sondern als Auftragswerk für die Bühne. Früher hatte ich immer den Drang, alles auszufüllen: Da muss noch was hin, ist sonst langweilig. Das hat sich gelegt - dieser Drang, den man ja auch der Jugend nachsagt.

Frage: Ich habe Sie 1987 in Münster erlebt, im Beiprogramm des Bildhauer-Projekts "Skulpturen" - da hat die Band noch richtig Krach gemacht mit Schlagbohrern und Einkaufswagen, die Passanten waren tief verschreckt. Dann wurden Sie ein Thema für die Feuilletons. Fehlt Ihnen das Aufrührerische, da Sie nun nicht mehr Bürgerschreck sind?

Antwort: Ich kann mich auch noch sehr gut an das "Skulpturen"-Projekt in Münster erinnern. Da sind wir nur auf ausdrücklichen Wunsch und Bezahlung der Bildhauerin Isa Genzken gewesen. Isa ist schon lange ein Neubauten-Fan - immer noch. Gegen Krach habe ich auch weiterhin nichts einzuwenden. Aber "Alles in Allem" finde ich jetzt rund, wie das Album eben ist. Das kann ich mir im klassischen Vinylplatten-Sinn anhören, mit einer Seite A und einer Seite B.

Frage: Es wird von "Alles in Allem" ein Deluxe Boxset geben, mit Buch und zusätzlichen Songs. Spannende Stücke wie "Si Takka Lumi" oder "Zuckerstimme" - warum fanden sie auf der regulären LP keinen Platz?

Antwort: Die passten einfach nicht mehr in die Sequenz des regulären Albums. "La Guillotine De Magritte" oder "Zuckerstimme" hätte ich da auch gerne drauf gehabt, aber dann wäre es zu lang fürs Vinyl geworden, dann hätte die Tonqualität gelitten.

Frage: Nach so langer Zeit als Band kriegt man diese Frage gestellt, oder man stellt sie sich auch selbst: Braucht die Welt noch ein neues Album der Einstürzenden Neubauten?

Antwort: Ich habe mich anfangs geziert, als die Band eine neue Platte vorschlug. Ich hatte zunächst nicht das Gefühl, ich muss noch ein Album machen. Das kam erst im Januar 2019. Dann habe ich nachgefragt, dann haben wir angefangen. Daher habe ich jetzt auch das Gefühl, dass die Welt durchaus noch ein Neubauten-Album braucht, dass es auch noch jemanden interessiert.

Frage: Und werden Sie 2030 das 50-jährige Bestehen der Band feiern?

Antwort: Wenn wir dann mit der Corona-Krise durch sind... Ja, ich kann mir für die Band noch so einiges vorstellen. Wir wollten nach der Phase 4 ja auch gleich weitermachen, mit Phase 5 und einem weiteren Album. Das ist natürlich jetzt ein bisschen sabotiert.

ZUR PERSON: Blixa Bargeld, geboren am 12. Januar 1959 in West-Berlin als Christian Emmerich, ist einer der einflussreichsten deutschen Rocksänger, außerdem Gitarrist, Performance-Künstler, Komponist, Autor und Schauspieler. Er gründete 1980 die Einstürzenden Neubauten, mit der er Industrial-Klänge, maschinellen Noise, Gothic-Elemente und experimentelle Rockmusik verband. Viele Jahre spielte er in der Band The Bad Seeds des Australiers Nick Cave. Bargeld lebt mit Ehefrau und Tochter in Berlin.

Das Album "Alles in Allem" von den Einstürzenden Neubauten erscheint am Freitag (15.5.) als 10-Track-CD und Vinyl-LP sowie als Deluxe Boxset mit Buch und zusätzlichen Stücken über Potomak/Indigo.