Turin. Noch nie zuvor hat beim Grand Prix ein Lied vom Publikum so oft die Höchstwertung bekommen. Das hat natürlich mit Politik zu tun.

Immer wieder zwölf Punkte für Freiheit und Demokratie: Die vom russischen Angriffskrieg erschütterte Ukraine hat den Eurovision Song Contest (ESC) 2022 mit einem beispiellosen Triumph gewonnen. Deutschland wurde Letzter bei dem Wettbewerb in Turin.

Vor fast 200 Millionen Zuschauern zwischen Island und Australien hatte sich Sänger Oleh Psjuk am Samstagabend an das Publikum gewandt und an Schauplätze des Ukraine-Krieges erinnert. "I ask all of you: Please help Ukraine, Mariupol, help Asovstal - right now", sagte er nach seinem Auftritt. Zu deutsch: "Ich bitte Euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol, Azovstal." Das Bühnenbild griff das Sonnen-Symbol des ostukrainischen Gebiets Donezk auf. Viele Musiker zeigten sich in der vier Stunden langen Show offen solidarisch mit der Ukraine.

Zum Feiern war der Band nicht zumute. "Wir werden vielleicht nach dem Krieg eine große Feier haben, denn der Sieg ist großartig, den ESC zu gewinnen ist fantastisch, aber es passiert gerade so viel", sagte Psjuk am Sonntagabend bei einer Online-Pressekonferenz. "Ich meine, Menschen, die man kennt, werden in diesem Krieg getötet oder kämpfen darin oder verlieren ihre Jobs in der Ukraine."

Bestnote für Ukraine aus Deutschland

In 28 der 39 anderen Teilnehmer-Länder gaben die Zuschauer den Ukrainern vom Kalush Orchestra und ihrem Lied "Stefania" 12 Punkte - der Schnitt lag bei 11,3. Noch nie in der Geschichte des Grand Prix hat ein Lied so oft vom Publikum die Höchstwertung bekommen. Auch das deutsche Publikum sprach ihnen die Bestnote zu. Am Ende siegten die Ukrainer in der Nacht zu Sonntag haushoch mit 631 Punkten. Sie landeten deutlich vor dem britischen Sänger Sam Ryder ("Space Man"), der mit 466 Punkten den zweiten Platz machte.

Damit unterschied sich das Urteil des Publikums auffällig von jenem der Jurys von Branchenkennern, welche die Ukraine nur auf Platz vier gewählt hatten. Beide Wertungen fließen zu gleichen Teilen ins Endergebnis ein. Nach dem Sieg rief Psjuk die Weltgemeinschaft zur Hilfe für die Kämpfer im Asow-Stahlwerk in Mariupol im Südosten des Landes auf: "Wir brauchen Hilfe, um diese Menschen freizubekommen."

Deutschlands Vertreter Malik Harris musste sich derweil mit sechs Punkten zufriedengeben und landete auf dem letzten von 25 Plätzen: "Ich weiß, dass man nicht allzu viele Punkte geholt hat am Ende, aber es war wirklich ein schöner Abend." Damit setzt sich Deutschlands Pechsträhne von 2021 und 2019 (jeweils vorletzter Platz) fort. Im Jahr 2020 war die größte Musikshow der Welt wegen Corona ausgefallen.

Hackerangriffe abgewehrt

Die italienische Polizei verhinderte nach eigenen Angaben Hackerangriffe auf das Finale. Die Hacker hätten versucht, in die Systeme einzudringen, teilten die Beamten mit. Spezialisten im Bereich Internetkriminalität, die für den Grand Prix abgestellt worden seien, hätten die Angriffe auf die russische Hackergruppe "Killnet" zurückgeführt.

Die Ukraine hat den ESC bereits in den Jahren 2004 und 2016 gewonnen. Unklar ist aber, ob das Land wirklich auch den ESC im nächsten Jahr austragen kann, wie die Regeln es eigentlich vorsehen. Zumindest derzeit könnte dort kein solcher Wettbewerb stattfinden, weil in dem Land Kriegsrecht herrscht. Damit sind keine Großveranstaltungen erlaubt. Und es gelten etwa nächtliche Ausgangssperren. Präsident Wolodymyr Selenskyj beteuerte hingegen: "Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision! Zum dritten Mal in unserer Geschichte."

Die Ukraine steht unter Attacke eines Angriffskriegs von Russland, das wegen der völkerrechtswidrigen Invasion vom ESC ausgeschlossen worden ist. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.

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