Düsseldorf. Fast acht Millionen Menschen in Deutschland haben Diabetes. Viele müssen Insulin spritzen. Doch der Fortschritt erleichtert den Alltag.

Dass er Typ-1-Diabetes hat, hörte er als Zwölfjähriger von seinem Arzt. „Ich war am Boden zerstört“, erzählt Bastian Niemeier in seinem Film „Diagnose D“. Die Formulierung „für immer“ habe es bis dahin im Wortschatz des Jungen gar nicht gegeben – jetzt hieß es, er müsse sich sein Leben lang Spritzen in den Bauch stechen.

Was das bedeutet, hat Bastian so sehr beschäftigt, dass er sich zum Hauptdarsteller eines Videos machte. Es wurde für den Deutschen Jugendfilmpreis nominiert. „Ich wollte aufklären. So viele Vorurteile habe ich gehört. Die meisten Menschen wissen gar nicht, dass ich alles essen darf, wenn ich mir dafür die passende Menge Insulin spritze“, erzählt er.

Youtuber Niemeier: Diagnose Diabetes hat mich selbstbewusster gemacht

Rückblickend ist der heute 19-Jährige überzeugt, dass die Diagnose ihn auch selbstbewusster gemacht hat: „Ich dachte, das Leben geht weiter, ich krieg das hin. Und die Reaktionen in meiner Klasse waren voll positiv“, sagt er. „Die anderen wollten plötzlich auch ihren Blutzucker messen.“ Lesen Sie dazu auch: Wie Diabetes das Leben von Betroffenen auf den Kopf stellt

Geht offen mit seiner Krankheit um: Youtuber und Filmautor Bastian Niemeier.
Geht offen mit seiner Krankheit um: Youtuber und Filmautor Bastian Niemeier. © Privat | Privat

Niemeiers Youtube-Kanal „Diabetes ohne Grenzen“hat inzwischen fast 7800 Abonnentinnen und Abonnenten. Und mehr noch: Er bekommt die neuesten Entwicklungen in der Diabetes-Technik zum Testen, damit er sie in Filmen erklären kann. Darüber hinaus berichtet er von seinen Erfahrungen, um anderen Fehler zu ersparen, die er selbst gemacht hat – und die etwa zu einer schweren Unterzuckerung geführt haben.

Diabetes: Schüler werden als „Junkies“ bezeichnet

Wenige Diabetiker gehen so offen mit ihrer Erkrankung um wie Bastian Niemeier. Viele verheimlichen sie sogar. Und dafür gibt es Gründe: Schülerinnen oder Schüler werden als „Junkies“ bezeichnet, wenn sie sich Insulin spritzen. Lehrer nehmen ihnen das Smartphone weg, mit dessen Hilfe sie ihren Blutzuckerspiegel kontrollieren. Oder sie lassen sie bei Klassenfahrten gleich daheim, weil sie Angst vor Notfällen haben.

„Berufstätige geben die Erkrankung im Job oft nicht an, weil sie befürchten, dass sie dann als weniger leistungsfähig gelten. Das Wissen über die Erkrankung ist immer noch zu wenig verbreitet“, sagt Olaf Spörkel. Der Leiter des Nationalen Diabetes-Informationszentrums und Vorsitzende des Regionalen Innovationsnetzwerks Diabetes in Düsseldorf arbeitet mit vielen Selbsthilfegruppen zusammen. Spörkel weiß: Bei vielen Betroffenen paarten sich Ängste, mit der Therapie überfordert zu sein, mit einer Furcht, bei der Berufswahl benachteiligt zu werden. Auch interessant: Diese neuen Methoden machen Diabetikern Hoffnung

Immunsystem zerstört Zellen in der Bauchspeicheldrüse

Von den aktuell etwa acht Millionen Menschen mit Diabetes in Deutschland haben 340.000 den Typ 1. Etwa 32.000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren sind davon betroffen, erklärt die Deutsche Diabetes-Hilfe. Beim Typ-1-Diabetes greift das Immunsystem die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse an und zerstört sie.

Dadurch entsteht ein Insulinmangel, der dauernd ausgeglichen werden muss. Auch ein Teil der Menschen mit Typ-2-Diabetes braucht Insulin, wenn der Blutzucker trotz einer Umstellung des Lebensstils oder der Ausschöpfung anderer Behandlungsansätze ständig entgleist. Lesen Sie auch: Warum der tägliche Spaziergang so gut für die Gesundheit ist

Neue Systeme lösen klassische Insulin-Kontrolle ab

Die Zeiten für Betroffene wandeln sich zum Besseren, sagt Julia Szendrödi. Die Leiterin des Klinischen Studienzen­trums am Deutschen Diabetes-Zentrum beobachtet immer mehr Menschen, die offen einen Sensor an ihrem Oberarm tragen. Sogenannte CGM-Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung lösen zunehmend die klassischen Kontrollen bei der intensivierten Insulintherapie ab. Bei der sticht man sich bis zu zehnmal pro Tag in den Finger, um den Blutzucker zu messen. Um sich dann mit einem Insulin-Pen in den Bauch zu piksen, damit der Spiegel nicht ansteigt.

„Die Sensoren schrumpfen in der derzeitigen Entwicklung von der Größe eines Zwei-Euro-Stücks auf die eines Fünf-Cent-Stücks. Sie können den Blutzucker im Gewebe bis zu zwei Wochen lang kontinuierlich messen und sollen demnächst noch nachhaltiger verwendbar werden“, sagt Szendrödi. Über eine App auf dem Smartphone oder andere Lesegeräte lässt sich der Verlauf der Werte unauffällig kontrollieren. Der Mensch mit Diabetes entscheidet selbst, wann er Insulin spritzt oder über einen Katheter in den Körper pumpt. Lesen Sie auch: Diabetes: Immer mehr Kinder erkranken – wie man damit umgeht

„Die letzte Verantwortung trägt man selbst“

„Bei den neuen, halb automatischen Systemen kommuniziert der Sensor direkt mit der Insulinpumpe“, sagt Bastian Niemeier. Diese schütte dann nicht nur den Grundbedarf aus, sondern sie „lerne“ mithilfe künstlicher Intelligenz, wann der Träger mehr oder weniger Insulin braucht, weil er zum Beispiel zu bestimmten Zeiten joggt. Bisher muss der Nutzer solcher sogenannter Hybrid-Closed-Loop-Systeme eingreifen und die Insulinmenge steuern, wenn er beispielsweise etwas essen möchte.

Julia Szendrödi findet das richtig: „Die letzte Verantwortung trägt man selbst und sollte sie nicht gänzlich an die künstliche Bauchspeicheldrüse abgeben.“ Doch die Entwicklung geht noch weiter: Künftig könnte man etwa mit dem Smartphone sein Essen fotografieren. Die Pumpe rechnet dann den Kohlenhydratgehalt der Lebensmittel aus, nach dem sich das notwendige Insulin richtet.

Bei Kindern kann das Smartphone die Eltern schon heute mithilfe einer Softwareanwendung wie „Nightscout“ über die Blutzuckerwerte des Nachwuchses auf dem Laufenden halten, selbst wenn Sohn oder Tochter gerade bei Freunden übernachten. Eine Technik, die in der Zukunft auch für ältere Menschen sinnvoll erscheint. Die Betreuer hätten dann den Verlauf der Werte im Blick und könnten diese für Gespräche mit dem behandelnden Hausarzt nutzen. „Nicht bei jedem älteren Menschen ist es allerdings notwendig, dass der Blutzuckerspiegel so fein eingestellt wird – das sieht bei Kindern anders aus“, erklärt Szendrödi.

Der Umgang mit den Geräten muss geschult werden

Bastian Niemeier trägt beispielsweise ein CGM-System der neuesten Generation. Er findet, dass sich sein Blutzuckerspiegel dadurch deutlich verbessert hat. Künftig, glaubt er, können sich Menschen mit Diabetes ihr individuelles System von verschiedenen Herstellern zusammenstellen. „Irgendwann regelt es fehlende Körperfunktionen vielleicht von ganz allein“, sagt er.

Die Experten vom Deutschen Diabetes-Zentrum sind allerdings froh, dass jeder selbst bestimmen kann, wie viel Technik er seinem Körper zumuten möchte: „Jeder kann so selbst entscheiden, inwieweit er seine Umwelt einbezieht“, sagt Julia Szendrödi.

Für den Umgang mit der Technik muss man übrigens beim Diabetologen geschult werden. Und es gibt auch Menschen, die keinen Sensor oder das dazugehörige Übertragungsgerät, den sogenannten Transmitter, auf den Körper geklebt oder darin implantiert haben möchten. Ein Ziel von Szendrödi ist es jedoch, dass alle Hausärztinnen und -ärzte über diese neuen Therapiemöglichkeiten Bescheid wissen und ihre Patienten informieren. Dafür könnten sie dann auch auf die Videos von Bastian Niemeier aufmerksam machen.