Berlin. Mit ihrem Team überwacht Pia Lamberty viele Gruppen im Netzwerk Telegram. Wovor die Verschwörungsexpertin warnt.

Anhänger von Verschwörungstheorien, demokratiefeindlichem und rechtsextremem Gedankengut sind in der Corona-Pandemie sichtbarer geworden.

Doch wer verbreitet ihre Erzählungen, wie finden sich Gegner von Corona-Maßnahmen zusammen und welche Themen bewegen sie? Diesen Fragen ist die Sozialpsychologin Pia Lamberty mit ihrem Team vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie auf der Spur. Aus ihrem Recon-Projekt soll perspektivisch ein Frühwarnsystem entstehen.

Frau Lamberty, das Internet ist schier grenzenlos. Wo fangen Sie mit Ihrer Forschung an?

Pia Lamberty: Derzeit schauen wir uns mithilfe von sogenanntem Real-Time-Monitoring, also Echtzeitüberwachung, systematisch an, was in Gruppen und Kanälen aus dem rechtsextremen und verschwörungsideologischen Spektrum auf dem Messengerdienst Telegram passiert. Allein während der Pandemie haben wir knapp 50 Millionen Nachrichten gesammelt, ungefähr 3000 Gruppen und Kanäle analysieren wir jetzt.

Wonach schauen Sie da?

Lamberty: Wir können anhand der Daten Aussagen dazu treffen, welche Themen gerade besonders relevant sind. Zum Beispiel, wenn es in der Nachricht, die sich gerade am stärksten verbreitet, um gefälschte Impfpässe geht oder zum Systemsturz aufgerufen wird. So kann man frühzeitig sehen, was in diesem Milieu eine Rolle spielt.

Verschwörungsexpertin und Autorin Pia Lamberty
Verschwörungsexpertin und Autorin Pia Lamberty © Daniel Pasche | Daniel Pasche

Es gibt eine starke Diskussion über den Messengerdienst Telegram. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) würde ihn am liebsten verbieten. Warum ist dieser Dienst bei Anhängern von Verschwörungstheorien oder Rechtsextremen so beliebt?

Lamberty: Der Grund ist zum einen die technische Struktur von Telegram. Zum Beispiel gibt es hier sogenannte Kanäle, in denen nur die Gründer Nachrichten veröffentlichen können. Unendlich viele Nutzer können diese Kanäle abonnieren. Gruppen, bei denen alle Teilnehmer mitreden können, können bis zu 200.000 Mitglieder haben.

Auf Whatsapp sind wir gerade bei 256 Teilnehmern, die in einer Gruppe sein können. Bei Telegram lassen sich Bots programmieren, die die Aufgaben des Administrators erleichtern und gefälschte oder betrügerische Nutzerprofile rausschmeißen. Das sind die Vorteile gegenüber anderen Messengerdiensten.

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Aber es gäbe doch noch andere Social-Media-Plattformen.

Lamberty: Es gibt keine Moderation von Inhalten auf Telegram, was diese Plattform von Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Youtube unterscheidet. Da Telegram ja auch als privater Messenger genutzt wird, für den Familienchat oder den Austausch mit den Freunden, ist es auch kein Nischenangebot wie andere einschlägig rechtsextreme Plattformen, es ist also bekannt und jeder kann es finden und nutzen.

Müsste die Politik den Dienst regulieren?

Lamberty: Es ist wichtig, etwas gegen Hetze zu unternehmen, aber man muss auch mitdenken, was das für unsere Gesellschaft heißt. Also wie viel Sicherheitsbehörden möchte man in digitalen Räumen haben, und welche Konsequenzen hat es, wenn eine Regierung einen Messengerdienst verbietet?

Die Debatte geht auch am Wesentlichen vorbei, wenn argumentiert wird, dass Telegram nicht kooperativ ist. Das macht es schwieriger, aber man wartet ja auch im Offline-Raum nicht darauf, dass der Wirt einem dabei hilft, Straftaten in seiner Bar aufzuklären, sondern man ermittelt.

Sie untersuchen nur Telegram?

Lamberty: Wir machen auch qualitative Analysen anderer Netzwerke, hier gibt es aber noch kein Real-Time-Monitoring. Telegram ist gerade die zentrale Plattform für verschwörungsideologische und rechtsextreme Vernetzung und Mobilisierung. Schon lange vor der Pandemie hat etwa der „Islamische Staat“ über Telegram rekrutiert und Propaganda verbreitet. Auch Rechtsextreme nutzen es schon länger.

Lässt sich per Echtzeitüberwachung auch Privates mitlesen?

Lamberty: Unser Programm dockt an eine sogenannte API an, eine Programmierschnittstelle der Telegram-Software. So erhalten wir Zugriff auf die öffentlichen Inhalte. Wir können nicht in Familienchats oder andere private Nachrichten reingucken, und das wollen wir auch gar nicht. Private Gruppen sind geschützt. Wer unsicher ist, kann in den Einstellungen prüfen, ob zum Beispiel die Familiengruppe öffentlich ist. Die Grundeinstellung ist immer „nicht öffentlich“.

Kann Echtzeitüberwachung helfen, sogenannte Spaziergänge von Gegnern der Corona-Maßnahmen vorherzusagen?

Lamberty: Real-Time-Monitoring ist ein quantitativer Ansatz. Damit lässt sich zum Beispiel die Reichweite eines Kanals ermitteln oder wie oft bestimmte Themen auftauchen. Aber bei der Bewertung solcher „Spaziergänge“ geht es um eine qualitative, also inhaltliche Auswertung. Wer wird mobilisiert? Ist das eine regionale Gruppe? Mobilisiert da jemand mit überregionalem Einfluss?

Wir schauen uns das an, können qualitative Analysen aber nicht für das gesamte Bundesgebiet leisten. Wir sind ein kleines Team, die riesigen Datenmengen können wir derzeit nicht bewältigen. Es gab aber auch durchaus schon Fälle, wo wir frühzeitig gesehen haben, dass es zum Beispiel problematische Aufrufe gegen einzelne Ärztinnen gegeben hat.

Welche Themen könnten das verschwörungsgläubige oder rechtsextreme Milieu in Zukunft stärker beschäftigen?

Lamberty: Wir sehen schon jetzt in unseren Daten, dass der Klimawandel als kommendes Thema von diesem Milieu diskutiert wird. Die Pandemie wird da quasi als Vorbereitung gesehen. Immer wenn es in der Gesellschaft zu Spannungen kommt, wenn Krisen entstehen, wird auch darauf reagiert.

Themen wie Migration etwa werden immer wieder umgedeutet, rassistisch aufgeladen, verschwörungsideologisch verstanden, ebenso wie kriegerische Auseinandersetzungen, etwa an den europäischen Grenzen.

Je stärker so etwas den eigenen Alltag betrifft, umso größer ist das Mobilisierungspotenzial. Und die Verschwörungsinfluencer sehen, welche Themen funktionieren. Es ist manchmal auch eine strategische Ausrichtung, wie sie ihre Themen setzen können.

Wer ist Verschwörungsinfluencer?

Lamberty: Es gibt da einige große Namen, Leute wie Attila Hildmann oder auch Xavier Naidoo, und dann gibt es auch noch viele Unbekannte. Das ist schwer zu beziffern, weil sich in der jetzigen Dynamik vieles ins Regionale verschoben hat. Das heißt, jemand, der vielleicht bundesweit nicht bekannt ist, kann für eine kleinere Stadt total relevant sein, weil es der Ortsvorsteher ist oder der Dorfbäcker, also jemand, den dort jeder kennt.

Ihr Team arbeitet auch mit Politikerinnen und Politikern zusammen, saß etwa in einem Expertengremium des bayerischen Landtags, wo es um die Gefahren von Verschwörungserzählungen ging. Was raten Sie der Politik?

Lamberty: Beim Umgang mit dem Protestgeschehen sollte man drei Säulen beachten. Erstens: Es muss reagiert werden, wenn es Verstöße gegen die Auflagen gibt, und Einsätze müssen so geplant werden, dass das auch möglich ist. Wurde das nicht gemacht, haben wir in dem Milieu Reaktionen gesehen, die darauf hindeuten, dass man sich bekräftigt und legitimiert fühlt und die Polizei auf der eigenen Seite sieht.

Gleichzeitig wächst so der Unmut in den Teilen der Gesellschaft, die Einschränkungen hinnehmen, während andere sie scheinbar ohne Konsequenzen nicht beachten. Die zweite Säule ist eine Stärkung der demokratischen Auseinandersetzung. In Sachsen war es beispielsweise so, dass nur zehn Menschen gemeinsam demonstrieren durften aufgrund der Corona-Maßnahmen.

Wer sich also an die Regeln gehalten hat, konnte den Regelbrechern nichts demokratisch entgegensetzen. Und die dritte Säule ist der bessere Schutz von Menschen, die betroffen sind von der Hetze aus diesem Milieu.