Berlin. Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat plötzlich gewichtige Fans in der Wirtschaft, sogar die Metallindustrie spendet Geld.

Es ist noch gar nicht lange her, da waren die Grünen der Albtraum der Wirtschaft. Die Forderung nach einem ökologischen Umbau der Unternehmen – bis vor wenigen Jahren für viele Firmenchefs reine Traumtänzerei.

Heute verdonnern Gerichte Politik und Unternehmen zum Klimaschutz. Und mit Annalena Baerbock hat erstmals eine Grüne die Chance, bei der Bundestagswahl im September sogar Kanzlerin zu werden. Jetzt findet sie in der Industrie mächtige Unterstützer. Werden Deutschlands Bosse grün?

Mit Joe Kaeser, bis Februar Chef des größten deutschen Industriekonzerns Siemens, hat sich einer der einflussreichsten Manager zu der grünen Kandidatin bekannt. "Die größte Glaubwürdigkeit für eine nachhaltige und langfristige Erneuerung hat sicherlich Annalena Baerbock", sagte er der "Süddeutschen Zeitung".

Die 40-Jährige stehe für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die Deutschland brauche. Kaeser lobte ihren Pragmatismus: "Sie sieht die ökologischen Aspekte, weiß aber auch, dass wir ein Industrieland sind."

Neue Nähe: Siemens-Chef Joe Kaeser zwischen Annalena Baerbock (li.) und Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt bei einem Gipfel vor der Pandemie.
Neue Nähe: Siemens-Chef Joe Kaeser zwischen Annalena Baerbock (li.) und Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt bei einem Gipfel vor der Pandemie. © picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Wirtschaftsführer über Forderungen der Grünen uneinig

Dabei ecken die Grünen auch heute immer wieder an. Mit der Forderung, dass der Benzinpreis für mehr Klimaschutz schnell um 16 Cent steigen müsse, haben Kanzlerkandidatin Baerbock und ihr Co-Parteichef Robert Habeck in dieser Woche die Empörung auf sich gezogen. Wie schon zuvor mit dem Plan, die besonders klimaschädlichen Kurzstreckenflüge schnell zu beenden.

Wenn der Klimaschutz ein Preisschild bekommt, kochen die Emotionen hoch. Nicht nur bei Bürgerinnen und Bürgern, die fürs Autofahren und für Urlaubsflüge künftig deutlich mehr zahlen müssen, sollten es die Grünen bei der Bundestagswahl im September in die Regierung schaffen. Denn nicht jeder Wirtschaftsführer wie Joe Kaeser jubelt beim Gedanken an eine Kanzlerin Baerbock.

"Die bisherigen Auftritte der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock lassen im Hinblick auf die Energie- und Steuerpolitik für den unternehmerischen Mittelstand nichts Gutes erwarten", sagt etwa Markus Jerger, Chef des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), unserer Redaktion.

Baerbock fremdele mit dem freien Unternehmertum als Kernstück der sozialen Marktwirtschaft. Jerger betont: "Auf die Unterstützung des Mittelstands kann nur bauen, wer Unternehmerinnen und Unternehmer nicht länger als potenzielle Gegner begreift, die man mit Verboten und Strafsteuern in Schach halten muss, sondern auf unternehmerische Freiheit mit angepasster Regulatorik setzt."

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    Dagegen hält Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW), die Grünen durchaus für wirtschaftsfreundlich. "Der Markenkern der grünen Wirtschaftspolitik ist die Vereinbarkeit von Klimaschutz und hoher Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, um den wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern", sagt der DIW-Chef unserer Redaktion. Und das sei schließlich das Interesse der Unternehmen. Diese würden zunehmend realisieren, dass ein grundlegender Kurswechsel nötig sei.

    Die Partei habe klar umrissene Pläne vorgelegt, wie ihre Agenda umgesetzt und finanziert werden soll, erklärt Fratzscher. "Dabei geht für die Grünen kein Weg an höheren öffentlichen Investitionen und einer stärkeren Besteuerung der Hochvermögenden vorbei."

    Partei gründete Wirtschaftsbeirat für besseren Dialog

    Doch genau an den Plänen zu höheren Steuern auf Kapitaleinkommen, Erbschaften und große Vermögen stößt sich die Wirtschaft. "Diese Auffassung widerspricht industriellen Realitäten, insbesondere im Mittelstand", urteilt der Bundesverband der Deutschen Industrie in einer Analyse des im November von der Partei verabschiedeten Grundsatzprogramms. Auch ein klares Bekenntnis zum Industriestandort fehle.

    Dabei hat die Partei durchaus ein offenes Ohr für die Wirtschaft. Die Bundestagsfraktion gründete für einen besseren Dialog 2018 einen Wirtschaftsbeirat. Unter den Mitgliedern sind Vertreter großer Energie- und Pharmaunternehmen. Chef des Gremiums wurde damals Ex-Unternehmensberater Danyal Bayaz – der jetzt Finanzminister Baden-Württembergs ist.

    Um die Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität mitzunehmen, will die Partei viel Geld in die Hand nehmen. Im Entwurf zum Bundestagswahlprogramm finden sich etwa ein Qualifizierungs-Kurzarbeitergeld, um Unternehmen und Beschäftigte bei Weiterbildungen zu unterstützen. Für Industrieregionen soll es einen "Transformationsfonds"geben, der vor allem kleine und mittlere Unternehmen stützt.

    Ist die Partei damit der Wirtschaft schon zu nahe gekommen? "Die Grünen sind heute schon so eng mit den Konzernen, wie es Schröder und Co. in ihren schlimmsten Zeiten waren", twittert Jan Korte, parlamentarischer Geschäftsführer der Linken.

    Winfried Kretschmann als positives Beispiel

    Die Unternehmen sehen jedenfalls auch Chancen für eine gedeihliche Zusammenarbeit. "Dass zumindest Teile der Grünen die Wirtschaft verstehen, beweist Ministerpräsident Winfried Kretschmann", sagt Mittelstands-Vertreter Jerger.

    Kretschmann stehe für eine mittelstandsfreundliche, nachhaltige Wirtschaftspolitik im Autoland Baden-Württemberg. "Die Frage ist nur, ob er damit in der eigenen Partei mehrheitsfähig ist."

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      Der Südwesten, wo Kretschmann seit zehn Jahren regiert, gilt als Muster für die Verbindung von grüner Politik und Wirtschaft. Da passt es ins Bild, dass auch die größte finanzielle Unterstützung für die Grünen aus dem Bundesland kommt.

      Im Jahr 2019 etwa floss die größte Spende an die Partei laut Rechenschaftsbericht aus Baden-Württemberg – 100.000 Euro vom Arbeitgeberverband Südwestmetall.