Sondershausen. Nordhausens Generalmusikdirektor Michael Helmrath versucht mit der ihm eigenen Virtuosität, eine Zeitspanne von 400 Jahren zu ermessen.

Schwer, einen Experten zu finden, der sich mit Zeiträumen von 400 Jahren auskennt. Wir haben uns an Michael Helmrath, den Generalmusikdirektor des Loh-Orchesters, gewandt.

Wie fühlt man sich mit 400 Jahren auf dem Buckel?

Mein persönlicher Buckel ist mit seinen nunmehr 65 Jahren hinreichend ausgelastet; der Orchester-Buckel verteilt sich auf 52 Musiker, womit auf jeden zirka 7 Jahre und 4 Monate entfallen. Diese Last scheint aus orthopädischer Sicht vertretbar.

Was nützt es einem Orchester, dass es so alt ist?

Das Wort „Tradition“ ist durch mannigfaltigen Ge- und Missbrauch reichlich abgegriffen. Gustav Mahler sagte: „Was Ihr Tradition nennt, ist nichts weiter als Schlamperei.“

Würden Sie per Zeitmaschine die Gründerjahre bereisen?

Ich würde wohl eher das 19. Jahrhundert ins Navi eingeben – in der Hoffnung, Komponisten wie Wagner, Liszt und Berlioz, die in Sondershausen zu Gast waren, zu begegnen. Ich hätte da die eine oder andere Frage ...

Hat sich für das Orchester seit 1619 etwas verbessert?

Das will ich doch meinen. Im 30-jährigen Krieg wurde Sondershausen mehrfach von kaiserlichen Truppen heimgesucht, sodann von der Pest – über die Hälfte der Bevölkerung kam ums Leben. Verglichen damit verblassen heutige Probleme. Es herrscht Frieden, und wir bleiben vom Schwarzen Tod verschont. Wenn die Musikstadt Sondershausen, Landkreis, Freistaat und – vor allem – unsere Konzertbesucher weiter zu ihrem Loh-Orchester stehen, muss einem nicht angst sein.

Welche Gebrechen des Alters stellen Sie beim Loh-Orchester fest?

Das gravierendste kommt in dem Umstand zum Ausdruck, dass – meines Wissens – keines der Gründungsmitglieder mehr unter uns weilt. Die hierbei zu Tage tretende Eigenart, die Vergänglichkeit, ist zugleich das Wesen der Musik, derer man nach dem Schlusston nicht mehr habhaft werden kann – sie ist flüchtig und im Wortsinne unbegreiflich. Unser Tun ist nicht von Dauer; wir machen nur Löcher ins Wasser.

Wenn ein Orchester ein vitaler Körper ist: Was ist dann sein Dirigent?

Ein Orchester mit seinem Dirigenten funktioniert tatsächlich wie ein Organismus und kann nur als System verstanden werden: Es braucht in jedem Moment die Ohren, den Verstand und das Herz aller, um Musik entstehen zu lassen – nur so wird das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Die Musiker dürfen ihr eigenes Hören und Erleben nie an den Dirigenten delegieren, dessen Rolle am ehesten als Katalysator zu verstehen ist – im Organismus wäre dies das Enzym, welches den Stoffwechsel steuert, ohne selbst verbraucht zu werden.

Wie alt kann so ein Loh-Orchester überhaupt werden? Der Name deutet ja auf eine Gerbung hin ...

In Wikipedia lese ich: „In einer Gerberei (...) wird durch den Einsatz von Gerbstoffen das Hautgefüge stabilisiert und damit Leder hergestellt.“ Mir fällt es, offen gesagt, schwer, hier eine Analogie zum Orchester heraus zu destillieren, aber „Stabilisierung des Hautgefüges“ klingt doch schon mal gut und deutet auf Langlebigkeit hin.

Gab es Geburtstagsgeschenke?

Das schönste Geschenk ist die Musik, mit der wir unser Leben verbringen dürfen: Was haben wir doch für einen wunderbaren Beruf! Ich wünsche, dass unsere Freude, der „schöne Götterfunken“, auf die Menschen überspringt, für die wir musizieren und von deren Zuneigung wir leben. – Freuen wir uns auf viele weitere Geburtstage des Loh-Orchesters Sondershausen!