Berlin. Parteichefin Alice Weidel kündigt eine Kanzlerkandidatur der AfD an. Wer könnte die Rolle einnehmen? Und was bezweckt die Partei damit?

Bis zu 20 Prozent der Stimmen in Umfragen für die AfD - und zugleich eine Ampel-Koalition, die im Tief hängt. Es ist der Zeitpunkt, an dem AfD-Chefin Alice Weidel verkündet, dass die rechte Partei für die Bundestagswahl 2025 eine oder einen Kandidaten für das Kanzleramt aufstellen will. Auf die Frage, ob ihre Partei über einen solchen Schritt nachdenke, sagte Weidel dem Sender RTL/ntv: „Natürlich. Wir hätten das auch ohne diese Werte getan, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.“

Warum will die AfD einen Kanzlerkandidaten aufstellen?

Derzeit steht die Partei, die vom Verfassungsschutz als „rechtsextremer Verdachtsfall“ gelistet ist, in Umfragen zwischen 18 und 20 Prozent. Vor allem in Ostdeutschland ist sie stark. Seit vergangenem Sommer steigen die Werte auch bundesweit stetig an. Mittlerweile liegt die AfD deutlich vor den Grünen, gleichauf mit der SPD. Am Sonntag könnte im thüringischen Sonneberg zum ersten Mal ein Kandidat der Partei zum Landrat gewählt werden. Klar ist, die AfD erlebt ein Hoch. Die Parteispitze will diesen Trend nutzen, um den Anspruch aufs Regieren neu zu erheben. Wenn Grüne und SPD einen Kandidaten aufstellen, „warum wir dann nicht?“, sagt ein hohes Parteimitglied.

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel stehen hinter der Weidel-Ansage drei Ziele: „Sie will sich Aufmerksamkeit verschaffen, durch Personalisierung stärker in den Debatten vorkommen und an Formaten beteiligt werden, die ihr bisher verschlossen sind.“ Die AfD dürfte mit einem Kanzlerkandidaten den Anspruch erheben, an den Kanzlerduellen im Fernsehen teilzunehmen. Das war der Partei bisher verwehrt.

Wer könnte der Kanzlerkandidat werden?

Es ist das große Problem der Partei: Bisher drängt sich niemand auf, auf den das Kanzlerkandidatur-Rennen zuläuft. Lange galt Alexander Gauland als das „Gesicht der Partei“, heute ist er Ehrenvorsitzender. Allerdings ist er mit 82 Jahren zu alt. Auch AfD-Funktionäre sagen: Das geht nicht mehr. In Frage kommt Co-Chefin Alice Weidel selbst. Sie ist in Umfragen der derzeit bekannteste Kopf der AfD. In den Rankings der beliebtesten Politikerinnen und Politiker landet sie allerdings weit abgeschlagen hinter den anderen Parteichefs und Ministern.

Und: Sie ist in der Partei umstritten, einzelne in der Fraktion der AfD kritisieren, Weidel sei zu wenig präsent - im Fernsehen, an Wahlkampfständen der AfD, in Debatten. Auf die Frage, ob sie sich selbst eine Kanzlerkandidatur zutraue, sagte Weidel bei ihrem Fernsehinterview: „Zutrauen kann man sich viel. Aber das ist völlig offen, wer dort antritt.“

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Anders Tino Chrupalla. Er ist gemeinsam mit Weidel Co-Chef der AfD, gilt intern als fleißig und umtriebig, hat sich Anerkennung in der Partei verdient, weil er immer wieder Kompromisse zwischen den Parteilagern sucht. Allerdings: Manch einer sieht auch Chrupallas Grenzen. Tenor: Das Amt des Kanzlers – eine Nummer zu groß für den Malermeister aus Sachsen. Zu wenig strahlt er Führungsstärke aus.

Zu den bekanntesten AfD-Politikern gehört auch Björn Höcke aus Thüringen, der prominenteste Kopf des rechtsextremen Flügels der Partei. „Wenn die Partei sich für einen der Rechtsextremen wie Björn Höcke entscheiden würde, hätte sie allein eine heftige negative Diskussion“, erwartet der Politikwissenschaftler Schroeder. Der Experte geht daher davon aus, dass die AfD nach einer Person sucht, die moderater sei und nicht so leicht wegen rechtsextremer Positionen aus den politischen und medialen Debatten ausgeschlossen werden könne. Nur wer das sein könnte? Offen. Die AfD hat ein Personalproblem.

Björn Höcke, Landessprecher und Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen.
Björn Höcke, Landessprecher und Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen. © dpa | Heiko Rebsch

Hätte ein AfD-Kanzlerkandidat Chancen auf das Kanzleramt?

Nein. An die Regierung würde die AfD aber selbst dann nicht kommen, wenn sie sich bei der nächsten Bundestagswahl noch über die derzeitigen Umfragewerte hinaus steigern sollte. Der AfD fehlen schlicht die Bündnispartner für politische Mehrheiten. Auch die Union bekräftigt, keine Zusammenarbeit mit der AfD einzugehen. Doch die „Brandmauer gegen rechts“ bekam zuletzt Risse. In Sachsen-Anhalt wurden laut Medienberichten „Geheimgespräche“ über eine Postenvergabe zwischen AfD und CDU im Landtag bekannt. Die Konservativen dementieren und gehen weiter öffentlich auf Distanz zu den Rechten.

Kommt die Ankündigung überraschend?

Für manche: ja. Mehrere ranghohe AfD-Funktionäre geben im Gespräch mit unserer Redaktion an, dass sie nichts von Weidels Ankündigung gewusst hätten. Auch im Parteivorstand sei zwar grundsätzlich immer mal wieder über eine Kandidatur zum Kanzleramt diskutiert worden, nur nicht über Zeitpunkt und Weg der Ankündigung. Ein Indiz dafür, dass Weidel in der K-Frage keine Absprache mit dem Vorstand trifft.

Zugleich überrascht der Zeitpunkt nicht: Angesichts der Umfragewerte drängt sich die Frage auf. Politologe Schroeder sagt: „Die Partei will mit der Entscheidung für einen Kanzlerkandidaten deutlich machen: Wir sind gekommen, um zu bleiben.“ Die AfD gehe damit den Weg anderer radikal rechter Parteien in europäischen Ländern wie Frankreich oder Italien.

Was bedeutet eine AfD-Kanzlerkandidatur für den Wahlkampf?

Durch einen Kanzlerkandidaten wird die AfD im Wahlkampf deutlich sichtbarer. „Ich erwarte allerdings nicht, dass die AfD sich mit einem Kanzlerkandidaten auch in der Pflicht sieht, sich thematisch breiter und tiefer aufzustellen“, sagt Politikwissenschaftler Schroeder. „Die Partei will einfache Lösungen anbieten, etwas anderes wird auch von ihren Anhängern nicht erwartet.“

Wie rechtsextrem ist AfD?

Nach Ansicht von Sicherheitsbehörden und Politikwissenschaftlern radikalisiert sich die Partei seit Jahren. In vielen Bundesländern ist der Geheimdienst an der Partei dran. Immer wieder äußern sich Politikerinnen und Politiker der AfD antisemitisch und hetzerisch gegen Minderheiten und Migranten. Teile der Partei seien „sehr stark von Moskau beeinflusst“, sagte diese Woche Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang. Tino Chrupalla war unlängst auf einem Fest der russischen Botschaft in Berlin – mitten in Zeiten des völkerrechtswidrigen Angriffs Russland auf die Ukraine.

Die Sicherheitsbehörden werten weiter Inhalte und Ausrichtung der AfD aus. Ein Verbot der Partei steht derzeit nicht zur Debatte, die rechtlichen Hürden sind hoch, da die Meinungsfreiheit in Deutschland durch das Grundgesetz geschützt ist. In der Geschichte der Bundesrepublik wurden nur 1952 eine Nachfolgeorganisation der NSDAP und 1956 die kommunistische KPD verboten. Ein Verbot der rechtsextremen NPD scheiterte 2017.