Kein Bundestrainer hat mehr Spiele mit der deutschen Fußball-Nationalelf absolviert als Joachim Löw. Wohl keiner sieht sich mehr „Bundestrainern“ gegenüber als der Schwarzwälder.

Kein Bundestrainer hat mehr Spiele mit der deutschen Fußball-Nationalelf absolviert als Joachim Löw. Wohl keiner sieht sich mehr „Bundestrainern“ gegenüber als der Schwarzwälder.

Gewöhnlich scheint Joachim Löw nichts aus der Ruhe zu bringen. Er mahnt in diesen Tagen zur Eile. „Vier Monate Pause tun unserer jungen Mannschaft gar nicht gut“, wird er zitiert. Ein unfertiges forsches Team hat der am kommenden Montag 60 Jahre alt werdende Fußball-Lehrer vor sich und eine Hammer-Aufgabe vor Augen. Am 12. Juni beginnt mit der EM das siebte große Turnier für Löw als Bundestrainer.

Das Team hat er umgekrempelt. Es muss liefern. Noch so ein K.o. in der Vorrunde verzeiht dem Chef de Mission unter Umständen selbst beim DFB niemand, der dessen Vertrag vorm Russland-Debakel bis 2022 verlängert hat. Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und ein Playoff-Gewinner warten in der Gruppe. Ein weiterer großer Gegner ist die Zeit, in der eine funktionierende Einheit mit frischen Ideen und Tempo den Weg zum Finale ebnen soll.

Der Weltmeister-Trainer von 2014 gilt als jemand, der das kann, der gern auf dem Trainingsplatz steht. Löw bastelt lieber mit seiner Mannschaft an Laufwegen und Spielformen, anstatt in Talk-Shows sein Spiel zu erklären. Der Zweitliga-Rekord-Torschütze des SC Freiburg (81 Treffer), der später für die Bundesligisten VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt und den Karlsruher SC spielt, er gilt als Tüftler, als einer mit enormem Taktik-Wissen.

Nicht zuletzt deswegen holt ihn Jürgen Klinsmann zum DFB. 16 Jahre liegt das zurück. Er sei kein klassischer Assistent, hat Klinsmann Berichten zufolge im Sommer 2004 über den Badener gesagt. Er soll ihm bei einem Trainer-Lehrgang die Viererkette so gut wie kein anderer erklärt haben.

FC Frauenfeld, VfB Stuttgart, Fenerbahçe Istanbul, Adanaspor, Tirol Innsbruck, Austria Wien, dann die deutsche Nationalelf. Nach 25 Trainerjahren stellt sich die Frage für Joachim Löw mit Blick zum paneuropäischen Turnier weniger nach einer Vierer-Abwehr, sondern eher nach einer Fünfer-, oder einer Dreierkette. Und beantwortet ist die Frage längst, ob er auf der großen Bühne angekommen ist. Er ist mehr als das. Der Wein- und Espresso-Liebhaber, als der Löw gern beschrieben wird, ist seit seiner Beförderung 2006 nicht nur auf den Geschmack gekommen. Er ist nicht erst seit Rio 2014 zu einer strahlenden Figur geworden.

Die Damenwelt bewundert das modebewusste Erscheinungsbild, den Stil mit der Vorliebe für Schals. Für die Herren befassen sich die Fragen des Geschmacks mit seiner Arbeit. Sie diskutieren darüber, zwischen Ballbesitz-Fußball, Überfall-Angriff und Abwehr-Rochaden die richtigen Mittel auswählen zu müssen. Und die richtigen Spieler dafür. Nicht immer teilt er mit seiner Ansicht die Meinung im Land.

Nicht wenige werfen dem Bundestrainer Stillosigkeit beim Umgang mit großen Namen vor. Andere sprechen von einer Linie ohne Kompromisse.„Jogi“, wie ihn einst seine Mutter genannt haben soll, stellt den Wettbewerb stets heraus, die Weiterentwicklung. Er verfolgt einen Plan und stellt selbst seine eigene Taktik auf den Kopf, wenn es sein muss. In 181 Spielen hat der Fußball-Lehrer Löw 135 Spieler eingesetzt und so viele Spiele wie kein anderer vor ihm gewonnen (117).

Er polarisiert und eint. Seinen Zeithorizont hat der Chef der Nationalelf selbst abgesteckt. „Trainer mit 70? Das halte ich für undenkbar“, sagte er der Deutschen Presseagentur zum Jahreswechsel. Helmut Schön mit 4977 Tagen als Bundestrainer hat er seit einer Woche hinter sich gelassen. Gut möglich, dass er auch länger auf der Bank der Nationalmannschaft sitzt als Sepp Herberger in seiner 7146-tägigen Amtsperiode.

Die nötige Ruhe dafür hat Joachim Löw. Er, der Taktiker, der Tüftler, der Talente-Förderer – vielleicht auch ein weiteres Mal Titel­träger.