Berlin. Nur noch jeder zweite Beschäftigte wird nach Tarif bezahlt. Der Gewerkschaftsbund warnt deshalb vor sinkender Kaufkraft in Ost und West

In Deutschland bezahlen immer weniger Unternehmen ihre Beschäftigten nach Tarif. Durch die Tarifflucht der Arbeitgeber entstehe dem Staat ein Schaden von rund 130 Milliarden Euro, erklärte die Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, unter Verweis auf eine Berechnung des DGB mit Daten des Statistischen Bundesamtes. Konkret gingen durch niedrigere Löhne den Sozialversicherungen jährlich rund 43 Milliarden Euro an Beiträgen verloren.

Bund, Länder und Kommunen nähmen demnach rund 27 Milliarden weniger Einkommenssteuer ein. Die Kosten der Tarifflucht summierten sich laut Gewerkschaftsbund damit im Osten auf mehr als 31 Milliarden Euro und im Westen auf 99 Milliarden Euro. Zudem werde die Kaufkraft der Bevölkerung „in erheblichem Ausmaß“ geschmälert. „Mit einer flächendeckenden Tarifbindung hätten die Beschäftigten insgesamt rund 60 Milliarden Euro mehr pro Jahr im Portemonnaie“, so der DGB.

Gewerkschaft: Nur jeder Zweite wird nach Tarif bezahlt

Die DGB-Chefin sieht in der Tarifflucht der Arbeitgeber ein Problem mit Folgen für die ganze Gesellschaft: „Dieser Trend gefährdet unseren Wohlstand, schwächt die Demokratie und kommt uns teuer zu stehen.“ Den Beschäftigten im Osten gingen jährlich mehr als 14 Milliarden Euro an Kaufkraft verloren. Unterm Strich bedeutet dies, dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin in den neuen Bundesländern pro Jahr im Schnitt 3915 Euro netto weniger Gehalt erhalte.

Yasmin Fahimi ist Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Yasmin Fahimi ist Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). © Hannes P. Albert/dpa | Unbekannt

Im Westen beziffert der DGB den Verlust auf 46 Milliarden Euro. Beschäftigte in den alten Bundesländern hätten damit 2819 Euro weniger in der Tasche. Unterm Strich verdienten demnach Beschäftigte ohne Tarifvertrag bundesweit pro Jahr 3022 Euro netto weniger als Tarifbeschäftigte.

Mit Tarifverträgen gebe es nicht nur mehr Geld, sondern auch „mehr Freizeit, mehr Lebensqualität“, so DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. „Bei gleicher Tätigkeit haben Beschäftigte mit Tarifvertrag im Schnitt 12 Prozent mehr Geld in der Lohntüte – und zudem auch öfter Urlaubs- und Weihnachtsgeld.“ Gleichzeitig böten Tarifverträge auch mehr Sicherheit in Krisenzeiten, „etwa durch bessere Regeln für das Kurzarbeitergeld“.

Mittelstand: Tarife dürfen Existenz nicht bedrohen

Fahimi forderte die Arbeitgeber auf, „ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder gerecht zu werden“ und Tarifverträge mit den Gewerkschaften abzuschließen. Öffentliche Aufträge und Fördergelder sollten nur noch an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverträge anwenden, so die Gewerkschaftschefin.

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    Kritik daran kommt von Arbeitgeberseite. Zwar seien Tarifverträge für mittelständische Unternehmen „eine gute Sache, wenn sie durch Produktivität gedeckt sind“, sagt Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des Bundesverbands Der Mittelstand (BVMW). Wo das aber nicht der Fall sei, „werden hohe Tarifabschlüsse schnell zur existentiellen Bedrohung gerade für Mittelständler.“

    Grundsätzlich sei es nicht die Aufgabe von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, für volle Sozialversicherungskassen zu sorgen. „Der Gesetzgeber kann durch niedrigere Steuern und Abgaben für mehr Netto vom Brutto sorgen“, sagt Völz. „Hier steht der Gesetzgeber durch ausgabensenkende Strukturreformen in allen Zweigen der Sozialversicherungen in der Pflicht.“