Ischgl. Vor zwei Jahren wurde die Ski-Hochburg Ischgl zur Corona-Drehscheibe für ganz Europa. Jetzt kommen wieder Urlauber. Ein Ortsbesuch.

Im Freeride neben der Talstation in Ischgl hämmert der Bass. Die jungen Männer an der Bar sind dem Verlust der Muttersprache nahe. Wer den Kampf gegen die Schwerkraft verliert, bleibt liegen. Einer tanzt mit einem Barhocker. Gläser gehen zu Bruch. Sonst ist das Lokal leer. Und während einige rauchend vor der Tür stehen, versucht einer Pole-Dancing an einem Bäumchen, johlt eine vorbeigehende junge Frau an, erntet einen angewiderten Blick – und landet im Schnee. Dann ziehen sie ab. Vielleicht geht woanders noch etwas.

Früher zählte das Skigebiet in Ischgl bis zu 20.000 Gäste pro Tag. Seit der Pandemie waren es maximal 9000.
Früher zählte das Skigebiet in Ischgl bis zu 20.000 Gäste pro Tag. Seit der Pandemie waren es maximal 9000. © imago images/Eibner Europa | imago sport

Das Kitzloch hat noch offen – gerade noch

Aber in der Schatzi-Bar, die mit „Après-Ski with Dirndl Girls“ wirbt, sind keine „Dirndl Girls“ auszumachen. Nikis Stadl macht bald zu. Die Wedl Alm ist dunkel. Das Kitzloch hat noch offen – gerade noch. Jener Laden, der schon vor der Pandemie wie kein anderer sinnbildlich für Après-Ski und Hüttenzauber stand. Jener Laden, den die Pandemie weltbekannt gemacht hat.

Anfang 2020 verbreitet sich das Coronavirus auch in Europa. Der österreichische Wintersportort Ischgl, der für seinen Après-Ski-Feste so beliebt ist, wurde zur Hochburg der Superspreader. Unzählige Ski-Freunde feierten auch im berühmten Kitzloch ohne Abstand und Maske, als gebe es weder das gefährliche Virus noch ein Morgen.

Corona: Das Virus großflächig in Europa verteilt

Als der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz am 13. März ankündigte, die betroffenen Gebiete Ischgl, Galtür oder St. Anton am Arlberg zu isolieren, ergriffen viele Skitouristen aus ganz Europa die Flucht. Mit ihrer sofortigen Abreise wollten sie einer möglichen Quarantäne entkommen – und verteilten das Virus großflächig.

„Viel ist seither passiert, viel hat sich verändert“, so Kitzloch-Besitzer Bernhard Zangerl. Zum kleinen Imperium der Familie Zangerl zählen ein Hotel, Restaurants, zwei Bars – mit insgesamt 150 Mitarbeitern. Er hat keine Scheu, über den März 2020 zu sprechen. Denn, so sagt er, er habe sich an alle Vorgaben gehalten. Sonderbar sei es halt schon, mit einem Mal so öffentlich an den Pranger gestellt worden zu sein. Einen „unglücklichen Zufall“ nennt er es.

Abstand halten, Maske tragen, Limonade statt Sekt – in Ischgl sind die Zeiten engen Körperkontakts und feuchtfröhlicher Partys vorbei.
Abstand halten, Maske tragen, Limonade statt Sekt – in Ischgl sind die Zeiten engen Körperkontakts und feuchtfröhlicher Partys vorbei. © imago images/Eibner Europa | imago sport

Enge Verstrickung von Politik und Tourismuswirtschaft

Unter den Angestellten des Kitzloch waren im März 2020 die ersten Corona-Infektionen in Ischgl ausgemacht worden. Kurz zuvor waren Ischgl und Tirol zum Hochrisikogebiet erklärt worden. Die schleppende Reaktion der Behörden in Tirol und die später zutage getretene enge Verstrickung von Politik und Tourismuswirtschaft in der Region hatten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zur Folge.

Dabei stand eine Frage im Zentrum: Inwieweit wurde versucht, die Lage zu vertuschen, um ein vorzeitiges Ende der Skisaison zu verhindern. Tirol hängt wirtschaftlich zu einem Drittel direkt am Tourismus. Die Staatsanwaltschaft fand keine Beweise für „schuldhaftes Verhalten“. Auch zivilrechtliche Klagen in der Sache wurden abgewiesen.

Wieder Corona-Fall im Kitzloch in Ischgl

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    Konsumiert werden darf heute nur sitzend

    Bekannt war das Kitzloch schon zuvor für ausschweifende Schnapsrunden, Sing-Alongs, wildes Massen-Gehopse bis in die Morgenstunden und solide Tische, auf denen man tanzen kann. Heute werden am Eingang Impfzertifikate und Ausweise penibel kontrolliert, konsumiert werden darf nur sitzend, weil Stehgastro ist verboten.

    Und irgendwann macht der Kellner Druck, auszutrinken: „Zehn Minuten hast’ no“, sagt er jovial zu einem Gast. Dann spielt der DJ „Thank you for the Music“ von ABBA – und das war’s. Schluss für heute. Auch interessant: Corona-Hotspot: Hinterbliebene von Ischgl klagen Behörden an

    Ischgl: Sperrstunde um 22.00 Uhr

    Draußen hört man fernes Gejohle in der Dunkelheit. Einige Grüppchen stehen zusammen. Tische und Hocker werden verstaut. Ansonsten: Stille. Dabei ist es erst 22 Uhr. Laut geltenden Corona-Maßnahmen ist das die Sperrstunde dieser Tage. Auch im Freeride hat der letzte Gast sein Glas geleert. Der Barkeeper sperrt mit einem Schulterzucken den Laden zu. Kein guter Abend war das.

    Am Dönerstand daneben wird ab jetzt nur noch Limonade verkauft. Nur da und dort singt noch jemand lautstark in einer Unterkunft. Und irgendwo zwischen Gästehäusern und Tiefgaragenzufahrten sitzt ein Brite im Schnee, telefoniert, gesteht einer Person am Ende der Leitung brüllend seine Liebe, steht auf, fällt, murmelt, dass er sich verirrt habe.

    Das ist ein Leichtes im Dschungel aus Alpenromantik-Hotels mit Namen wie Madlein, Hotel Austria, Amaris, Eggerstüberl oder Beladona Mountaina.

    „Es hat sich viel verändert“, sagt Kitzloch Besitzer Bernhard Zangerl.
    „Es hat sich viel verändert“, sagt Kitzloch Besitzer Bernhard Zangerl. © imago images/Eibner Europa | imago sport

    Ischgl: „Zu 100 Prozent von Tourismus abhängig“

    Ischgl ist ein Hoteldorf, ein Unternehmen, eine Marke. In den frühen Morgenstunden staksen Urlauber in Skimontur durch die Fußgängerzone. Und Bürgermeister Werner Kurz, ein drahtiger Mann um die 60, sagt offen: „Der Ort ist wirtschaftlich zu 100 Prozent von Tourismus abhängig.“

    Fast jedes Haus bietet Gästebetten oder ist ein Hotel, die Gas­tronomie ist ausgerichtet auf Gäste und deckt alles ab von Hauben-Küche bis Burger und Party, der Handel beschränkt sich auf Sportartikel, Luxusartikel, Speck und Souvenirs. Wichtigster Arbeitgeber ist die Seilbahngesellschaft mit 500 Mitarbeitern. Weitere Informationen: Corona: Allgemeine Impfpflicht in Österreich beschlossen

    Skigebiet: 1500 Einwohner – bei 12.000 Gästebetten

    Und diese AG, die gehört zu 70 Prozent wiederum der Gemeinde, dem Tourismusverband und anderen nahen Gemeinden – bei einem Vor-Pandemie-Umsatz von 74 Millionen Euro. Überwiegend im Winter. Dabei hat Ischgl 1500 Einwohner – bei 12.000 Gästebetten. Hinzu kommen bis zu 3500 Saisonkräfte. Aber das war damals. Damals, da schluckte das Skigebiet bis zu 20.000 Gäste pro Tag. Seit der Pandemie waren es maximal 9000.

    Bürgermeister Kurz: „Es geht um Existenzen“

    Weihnachten und Silvester seien gut gewesen, sagt eine Hotelbesitzerin. Jetzt aber kämen die Stornierungen rein. Vor allem aus Deutschland, das Österreich wieder zum Hochinzidenzgebiet erklärt hat. Die Auslastung liegt aktuell bei 40 Prozent. Und so sagt die Hotelbesitzerin: „Lange kann das nicht mehr so gehen.“

    „Es geht um Existenzen“, sagt Bürgermeister Werner Kurz, „fast alle haben Darlehen laufen.“ Für die Gemeinde bedeuten weniger Gäste weniger Steuereinnahmen und weniger Gewinne aus dem Seilbahngeschäft. Werner Kurz bezeichnet sich als Optimist: „Ich hoffe, dass wir in drei, vier Jahren wieder auf dem Auslastungslevel sind, auf dem wir waren“, sagt er.

    Die Skitouristen sind wieder da, aber ihre Zahl hält sich in Grenzen.
    Die Skitouristen sind wieder da, aber ihre Zahl hält sich in Grenzen. © imago images/Zeitungsfoto.at | imago stock

    Ski: Die vergangene Saison gab es praktisch nicht

    Vieles hätte man im März 2020 anders machen können, sagt Bernhard Zangerl vor dem Kitzloch an einem Tisch sitzend. Die Sonne verschwindet hinter den Bergen. Aber im Nachhinein sei man immer gescheiter. Er war gewarnt worden.

    Der ÖVP-Abgeordnete, Seilbahn-Lobbyisit und Hotellier Franz Hörl hatte Druck auf seine Familie gemacht. Der hatte per SMS gefordert, das Kitzloch zuzusperren, „oder willst du schuld am Ende der Saison in Ischgl und eventuell Tirol sein?“ Der Rest ist Geschichte.

    Die vergangene Saison gab es praktisch nicht. Und diese, so sagt Bernhard Zangerl, wird schon gut, wenn sie 50 Prozent der Vor-Pandemie-Umsätze bringt. Wenn das so weitergehe, werde man einen Winter vielleicht noch überstehen. Und dann, so meint er, „kommt wohl doch irgendwann der Punkt, an dem man sich überlegt, die Branche zu wechseln“.