Berlin . Russlands Präsident Putin wirkt isoliert und außer Kontrolle. Was geht in seinem Kopf vor? CIA vermutet: Er ist wütend und frustriert.

  • Seit zwei Wochen tobt nach dem Überfall Russlands der Krieg in der Ukraine
  • Die russischen Truppen rücken nur langsam vor, sie haben mehr Verluste als angenommen
  • Unterdessen gibt es in den USA eine Debatte um den Geisteszustand von Putin

Wolfgang Ischinger war jahrzehntelang ein Top-Diplomat. Der erfahrene Krisenmanager hält Russlands Präsidenten Wladimir Putin für einen scharf kalkulierenden Kopf und will nicht darüber spekulieren, ob der Kremlherr geistig krank sei.

Kalte Entschlossenheit nimmt auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wahr. Er werde seine Ziele so oder so erreichen, machte ihm Putin zuletzt am Telefon klar, "entweder durch Verhandlungen oder durch Krieg".

Das passt zum Bild, das sich William Burns aus der Ferne macht. Der russische Präsident sei "entschlossen, die Ukraine zu dominieren, zu kontrollieren", sagte der CIA-Chef bei einer Kongressanhörung in Washington. "Das ist für ihn eine Frage der tiefen persönlichen Überzeugung."

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Burns, der einst Botschafter in Russland war, glaubt: "Putin ist jetzt wütend und frustriert.“ Grund dazu hätte der Präsident. Seine Truppen kommen bei der Eroberung der Ukraine nicht so schnell wie erhofft voran. Sie stoßen auf massiven Widerstand und müssen viele Verluste verkraften.

Wer Putins Gedanken lesen kann, der kann seine nächsten Schachzüge erahnen. Burns glaubt, der russische Staatschef werde voraussichtlich die Angriffe verstärken "und versuchen, das ukrainische Militär ohne Rücksicht auf zivile Opfer zu zermalmen". Die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines sagte auf der selben Kongressanhörung, Putin habe das Gefühl, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht verlieren dürfe.

Putins explosive Mischung aus Groll und Ehrgeiz

Das Problem mit Autokraten ist, dass sie sich mit der Zeit isolieren. Burns: "Er hat ein System geschaffen, in dem sein engster Beraterkreis immer kleiner wird." Dort wage es niemand, die Entscheidungen des Präsidenten in Frage zu stellen. Ohnehin schmore Putin seit vielen Jahren in einer "explosiven Mischung aus Groll und Ehrgeiz".

Noch in (un)guter Erinnerung ist die im Fernsehen übertragene Befragung seines engsten Umfelds, ob Russland die Separatistengebiete Donezk und Luhansk in der Ostukraine als selbständige Staaten anerkennen sollte. Reihum wurde Putin darin bestärkt. Kritik? Einwände? Bedenken? Fehlanzeige. Eine Ja-Sager-Runde.

"Das dürfte im innersten Kreis bei geheimen Besprechungen nicht anders sein", vermutet Herfried Münkler, emeritierter Politikwissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin in der "Neuen Zürcher Zeitung". Das wäre eine Erklärung dafür, warum sich Putin derart verkalkuliert hat.

Mit der Zeit werden Autokraten dumm und realitätsblind

Es ist unklar, ob und wie deutlich Putin bewusst ist, dass die Armee in der Ukraine schlagkräftiger und die Bevölkerung widerspenstiger als angenommen ist. Sie nimmt die Invasoren keineswegs als Befreier wahr. Für Münkler läuft es darauf hinaus, "dass ein Autokrat mit der Zeit dumm wird". Wie soll er auch in einer Echokammer lernen, in der ihm Informationen nicht erreichen, die seiner Sichtweise widersprechen? Putin mag nicht verrückt sein, aber womöglich ist er realitätsblind.

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Russlands Präsident Wladimir Putin. © dpa

Putins Geisteszustand: Diskussion in den USA

Die Diskussion um Putins Gemütszustand, um seine geistige Verfassung läuft seit Längerem in Amerika. Der frühere US-Geheimdienstchef James Clapper sagt, er mache sich Sorgen um Putins inneres Gleichgewicht. Der frühere Verteidigungsminister Robert Gates hat den Eindruck, Russlands Präsident laufe "aus dem Ruder".

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach neulich im ZDF davon, dass er das Leben von Kindern, Frauen und Männern aufs Spiel setze, um seine "Wahnvorstellungen" durchzusetzen. Westliche Politiker können sich schlecht in seine Rolle hineinversetzen. Aus ihrer Sicht kann eine Kriegsentscheidung nur irrational sein, der helle Wahnsinn.

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Für Putin untypische Wutausbrüche

Michael McFaul, der während der Obama-Regierung US-Botschafter in Russland war, sagte NBC News: "Ich spreche Russisch. Ich habe ihm zugehört und ich weiß, was er sagt, er ist zunehmend aus den Fugen geraten.“ McFaul ergänzte, er sei nervös, "dass Herr Putin seiner Propaganda seit Jahrzehnten glaubt“.

Aus Geheimdienstquellen heißt es, der russische Präsident sei zunehmend frustriert über den schleppenden Verlauf der Invasion. Er sei mit für ihn eigentlich untypischen Wutausbrüchen auf Menschen in seinem direkten Umfeld losgegangen. Putins Isolation sei "eine Hauptsorge", zitiert NBC einen Diplomaten. "Wir glauben nicht, dass er realistische Einblicke hat in das, was gerade passiert."

Es sind Beobachtungen und Vermutungen, die nicht zum vertrauten Putin-Bild passen. Kaum eine westliche Politikerin oder Politiker steht so regelmäßig im direkten Kontakt zu Putin wie Macron. Schon nach seinem Besuch in Moskau kurz vor Kriegsausbruch hörte man hinterher aus seiner Delegation, es sei klar geworden, "wie unterschiedlich der heutige Putin von dem vor drei Jahren war".

Das Drama ist, dass er eigentlich nur noch verlieren kann. "Auch wenn Putin schließlich Herr über die Ukraine werden sollte – es wird ein stark zerstörtes Land sein, das er beherrscht, in dem die Herzen der großen Bevölkerungsmehrheit ihm in tiefer Abneigung, wenn nicht Feindschaft zugewandt sind und aus dem die kreativsten Köpfe geflohen und in den Westen gegangen sind", analysiert Historiker Münkler. Russland werde durch den Zugewinn der Ukraine nicht stärker, sondern schwächer geworden sein. Allein, wer sagt es Putin?

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.