Gera. In der turbulenten Nachwendezeit spielt sich in Ostthüringen ein einmaliges Stück Pressegeschichte ab. Zum zweiten Mal binnen 18 Monaten nehmen die Zeitungsmitarbeiter ihr Schicksal selbst in die Hand.

„Am Abend tippe ich meine Kündigung. Nebenan schlafen die Kinder und in Thüringen implodiert die Wirtschaft. Tausende sind arbeitslos. Ich aber habe Arbeit“, berichtet Angelika Bohn über ihre Gedanken im Juni 1991. Seit Januar 1990 leitet sie das Ressort Kultur der Ostthüringer Nachrichten. „Bin ich verrückt, das hinzuschmeißen? Doch, wie groß ist die Chance, dass ich, 39 Jahre, alleinerziehende Mutter, die geliebte Arbeit behalte, wenn die Treuhand meine Zeitung an ein katholisches Verlagshaus verkauft?“

"Am Abend tippe ich die Kündigung. Nebenan schlafen die Kinder, und in Thüringen implodiert die Wirtschaft. Angelika Bohn, frühere Kulturchefin.

Schon im Januar 1990 hatten die Redakteure der ehemaligen „Volkswacht“ ihr Schicksal und das der Zeitung selbst in die Hand genommen. Sie erklärten ihre Unabhängigkeit, lösten sich von der Herausgeberschaft der SED, etablierten mit den Ostthüringer Nachrichten (OTN) einen neuen Titel.

Aus den eigenen Reihen wählten sie Ullrich Erzigkeit zum Chefredakteur, gründeten eine Mitarbeiterbeteiligungsgesellschaft, knüpften erste Kontakte zur WAZ in Essen und stellten mit deren Hilfe den Vertrieb von der einstigen Postzustellung auf eigene Füße. Die Verbindungen wurden immer enger, und so waren es auch jene Techniker aus Nordrhein-Westfalen, die im März 1990 ein computergestütztes Redaktionssystem – ein Atex-Fotosatzsystem – in Farbeimern aus Essen an die Elster schmuggelten, denn Computertechnik stand bis dato noch auf der Embargo-Liste des Westens.

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Titelseite der OTZ-Erstausgabe vom 1. Juli 1991
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„Im Mai 1991 war ich nach abgeschlossenem Fernstudium gerade Redaktionsleiter der Ostthüringer Nachrichten in Pößneck geworden. Die Zeit der Neuordnung und der Neufindung war seit mehr als einem Jahr in vollem Gange“, sagt Lutz Prager. „In den Lokalredaktionen war tägliches Learning by doing angesagt. Es herrschte Aufbruchstimmung. Sowohl die Art der lokalen Berichterstattung wandelte sich von Grund auf als auch die technische Produktion.“ Der Partner WAZ habe Faxgeräte und erste Computer in die Redaktionen geschickt. „Das war damals völliges Neuland, auch für uns junge Leute“, erinnert er sich.

"In den Lokalredaktionen war tägliches Learning by doing angesagt. Es herrschte Aufbruchstimmung." Redakteur Lutz Prager

Die Treuhand reagierte das ganze Jahr nicht weiter auf die Entwicklungen der Ostthüringer Nachrichten zwischen Elster und Saale, sah allerdings keine Chance für eine Zukunft der Mitarbeiterbeteiligungsgesellschaft und der Kooperation mit dem Essener Zeitungshaus. Sogar eine französische Privatbank für Investitionen war seit November 1990 mit ins Boot geholt worden. Doch die Treuhand blieb bei ihrer abweisenden Haltung, und schließlich eskalierte der Streit im Frühjahr 1991 – und führte letztlich zur rigorosen Kündigung der kompletten Redaktion.

„Wir hatten bereits in der Essener WAZ-Gruppe einen zuverlässigen Partner, der uns schon Anfang 1990 Computer und Drucktechnik besorgte, beim Aufbau des eigenen Zeitungsvertriebs Pate stand und bereit ist, der Redaktion die gegen den Widerstand von PDS-Genossen und linken Wirrköpfen hart eroberte Freiheit zu garantieren“, sagt Kulturchefin Bohn. Doch lasse sich eine regionale Tageszeitung verkaufen, wenn sie keine Mitarbeiter mehr hat? „Natürlich funktioniert so ein Plan nur, wenn auf einen Schlag alle Mitarbeiter Zivilcourage beweisen und kündigen. Nur dann wird der smarte Aufseher von der Treuhand um 10 Uhr in seinem Büro feststellen: Keiner mehr da, der ihm die Ostthüringer Nachrichten voll schreibt. Wenn das passiert, müssen die Karten im Verkaufspoker neu gemischt werden.“

Bohn leistet mit einem Kollegen als Vertreter des Betriebsrats einen kleinen Ablenkungsbeitrag und verlangt hartnäckig einen Essensgeldzuschuss für die Kollegen. „Meine Kündigung gebe ich am Morgen ab und laufe in die Bahnhofstraße 16. Dort unterschreibe ich in einer Dachkammer an einem ramponierten Sprelacarttisch einen Arbeitsvertrag als Ressortleiterin Kultur der Ostthüringer Zeitung. Dann produzieren meine Kolleginnen und ich die Kulturseite für die erste Ausgabe der OTZ", erinnert sie sich an jenen historischen Tag.

167 Kündigungsschreiben an einem Tag

Redakteur Jens Voigt beobachtet, wie sämtliche Redakteure, einer nach dem anderen, vom Redaktionsgebäude in Gera rüber ins Verlagshaus liefen, um die Kündigung bei OTN und den neuen Arbeitsvertrag bei OTZ bzw. WAZ zu unterschreiben. Schließlich landen an jenem Tag auf dem Schreibtisch von Walter Berning, dem von der Treuhand platzierten neuen Geschäftsführer im OTN-Verlag, 167 Kündigungsschreiben. Wirksam zum 1. Juli 1991. „Somit hatten die Ostthüringer Nachrichten, die anderthalb Jahre zuvor von der Redaktion als Schlussstrich unter das SED-Presseorgan "Volkswacht" gegründet worden waren und um die ein hartnäckiger Streit mit der Treuhand entbrannt war, keine Redakteure mehr, die Inhalte hätten liefern können.“

"Somit hatten die Ostthüringer Nachrichten keine Redakteure mehr, die Inhalte hätten liefern können." Redakteur Jens Voigt

„Das Vertrauen aller Mitarbeiter in die neue Zeitung und auch in die bis dahin geleisteten Investitionen der WAZ war enorm und sehr bemerkenswert. Wir hatten an dem Wochenende zuvor in der Personalabteilung in Essen die neuen Arbeitsverträge aufgesetzt und all unsere OTN-Kollegen gebeten: Bitte kündigt!“, erinnert sich Jan Dressel, verantwortlicher Redakteur für Redaktionstechnik. „Wir standen auch vor dem Problem, dass de facto alles der Treuhand gehörte, jeder Tisch und Stuhl, die Redaktionstechnik, die Druckerei, der Fuhrpark.“

Die Geburtsstunde der OTZ hatte die Belegschaft akribisch vorbereitet, denn es war zu erwarten, dass die Treuhandanstalt alle juristischen Register ziehen würde. „In unmittelbarere Nähe des Geraer Redaktionssitzes war kurzfristig ein leerstehendes Gebäude angemietet und eilig mit allen technischen Ausstattungen versehen worden, die für den Redaktionsbetrieb und die Seitenproduktion notwendig waren“, sagt der damalige Chefredakteur Ullrich Erzigkeit. „Mit Motorradkurieren wurde getestet, wie schnell Manuskripte und andere Druckvorlagen nach Essen gebracht werden könnten.“

Dann kam der 1. Juli 1991, ein Montag, und mit ihm die erste Ausgabe der Ostthüringer Zeitung (OTZ). Auf der Titelseite der ersten Ausgabe legten die Redakteure den Lesern ihre Gründe dar, warum sie gegen den Willen der Treuhandanstalt und gemeinsam mit der Zeitungsgruppe WAZ in Essen eine neue Zeitung gegründet hatten. Doch nicht nur folgte die Redaktion dem von ihr gewählten Chefredakteur durch dick und dünn, auch die Leserschaft blieb dem neuen Blatt treu, versprach es doch, eine unabhängige, keinerlei zentralistischen Zwängen unterworfene Zeitung zu sein, die besonders die Interessen der Ostthüringer im Blick haben würde.

Einige Ausgaben vom 3. Juli 1991 mussten dann doch unter erschwerten Bedingungen gedruckt werden. Und so hieß es an jenem Tag auf der Titelseite: „Die Treuhand hat den Druck der neuen Zeitung im Druckhaus Gera verhindert und uns gezwungen, diese OTZ mit großem Aufwand in der WAZ-Druckerei in Essen zu produzieren. Um die pünktliche Auslieferung zu sichern, wurden die Druckvorlagen gestern per Hubschrauber nach Essen befördert.“

Auch die folgenden Juli-Tage blieben turbulent. Es folgten einstweilige Verfügungen und Strafanzeigen, Vorverurteilungen und auch eine nicht immer positive Resonanz durch andere Medien. Schließlich kam es am 18. Juli zum Treffen von Treuhand und der Essener Gruppengeschäftsführung in Berlin, man einigte sich und konnte am 20. Juli 1991 auf der Titelseite mitteilen: „Der Streit um die OTZ ist beigelegt.“

„Mit dem Kompromiss konnten alle zufrieden sein“, sagt Ullrich Erzigkeit. „Der Bundesrepublik war kein Schaden entstanden, wie uns immer vorgeworfen worden war.“ Eine Ausgleichszahlung der WAZ-Gruppe an die Treuhand war im Rahmen der Streitbereinigung verhandelt worden. Das Erscheinen der OTZ war gesichert, auch das bis dahin treuhandgeführte Druckhaus Gera ging an den neuen Eigentümer über, den Beschäftigten wurde eine dreijährige Beschäftigungsgarantie zugesagt und Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe in Aussicht gestellt.

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