Berlin. „Black Mirror“, „Squid Game“, „Der Schwarm“, nun „Paradise“ mit Iris Berben, bald die neue, 2049 spielende „Charité“-Staffel: Zeitnahe Science-Fiction hat Konjunktur. Was es mit dem Trend auf sich hat.

Science-Fiction gehört zu den populärsten Literatur- und Filmgenres. Die Unterkategorie „Near Future“ begeistert in Fernseh- und Streaming-Produktionen in jüngerer Zeit besonders.

Man denke an düstere Serien wie „Black Mirror“, die pro Folge meist eine einzelne technische Neuerung als Horrorvision durchexerziert, aber auch an „Der Schwarm“ oder an den neuen Netflix-Thriller „Paradise“ mit Iris Berben und Kostja Ullmann, in dem sich Reiche bei einem Biotech-Start-up Lebenszeit kaufen und übertragen lassen können. Warum sind solche - in naher Zukunft spielende - Schreckensvisionen bei Millionen Menschen so beliebt?

„Near Future“ hat Tradition in der Literatur

Zu den Near-Future-Klassikern der Weltliteratur gehören aus dem 19. Jahrhundert zum Beispiel „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne und „Der Krieg der Welten“ von H. G. Wells. 1949 erschien George Orwells Klassiker „1984“, die Dystopie von einem totalitären Staat. Auch in den letzten Jahren gab es einige Near-Future-Werke, die viel Aufsehen erregten und Bestseller wurden, darunter „QualityLand“ von Marc-Uwe Kling, „Zero – Sie wissen, was du tust“ von Marc Elsberg, die auch verfilmte Internetfirma-Dystopie „Der Circle“ von Dave Eggers oder Kim Stanley Robinsons Cli-Fi-Roman (von Climate-Fiction) „Das Ministerium für die Zukunft“.

„Das Genre "Near Future" konzentriert sich darauf, Zukunftsszenarien aufzuzeigen und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft durchzuspielen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann, die vor kurzem das Buch „Science-Fiction zur Einführung“ herausgebracht hat. Die Gegenwart werde damit kritisch hinterfragt und das Publikum zum Nachdenken angeregt.

Weiterspinnen zu mitreißenden Dramaturgien

„Aktuelle Herausforderungen werden meist ins Negative extrapoliert, etwa Entmenschlichung durch fortschreitende Technik oder die Gefährdung von Demokratie und Freiheit durch Populismus“, sagt Hermann. „Dieses Weiterspinnen von technischen Trends ins Negative, um zum Nachdenken anzuregen, entwickelt mitreißende Dramaturgien, fesselt die Leute mit Angstlust oder "Disaster Porn".“

In den vergangenen Jahren gab es aufsehenerregende Polit-Sci-Fi wie „The Handmaid's Tale – Der Report der Magd“ oder „Years and Years“, die Komet-Komödie „Don't Look Up“ mit Jennifer Lawrence und Leonardo DiCaprio, Stromausfallserien wie „Blackout“ und „Alles finster“, die Asteroid-Serie „8 Tage“ oder die Seuchen-Serie „Sløborn“.

Near-Future-Thriller dieser Art spielen in einer greifbaren Zukunft, also in den nächsten zehn bis 50 Jahren - und nicht etwa im Jahr 3000. Sie sind eingebettet in eine Welt, die sich aus heutigen Entwicklungen ableiten lässt und tatsächlich möglich und plausibel erscheint. Themen sind dann etwa Überwachung und Künstliche Intelligenz (KI). Auch Stanley Kubricks Weltraumepos „2001: Odyssee im Weltraum“, in dem sich eine KI (der Supercomputer HAL 9000) scheinbar bösartig gegen Menschen wendet, ist demnach ein Near-Future-Film aus Sicht des Erscheinungsjahres 1968.

Vielfältige Bedrohungsszenarien

Near-Future-Themen können heute auch Technologien wie Drohnen, Virtual-Reality-Systeme, Robotik oder auch der Klimawandel und politische Turbulenzen sein. Im August startet zum Beispiel die Serie „Arcadia“ bei der ARD, in der angesichts knapper Rohstoffe ein Punktesystem über das Leben von Menschen entscheidet.

Abgedreht ist auch die Sky-Serie „Helgoland 513“, in der nach einer Apokalypse 513 Bewohner auf der deutschen Nordsee-Insel im Jahr 2036 ums Überleben kämpfen. Und 2024 springt die bisher medizinhistorisch angelegte ARD-Serie „Charité“ ins Jahr 2049, also dorthin, wo auch die „Blade Runner“-Fortsetzung von 2017 angesiedelt war, während Ridley Scotts „Blade Runner“-Film von 1982 im überbevölkerten und verdreckten Los Angeles eines angeblichen 2019 spielte.

„Bei Near-Future-Science-Fiction gibt es einen schmalen Grat zwischen einer überzeugenden Darstellung der nahen Zukunft und einer unglaubwürdigen, peinlichen Vorhersage“, sagt Expertin Hermann. „Mit dieser Problematik müssen sich Autorinnen und Autoren, die ihre Geschichten in einer weiter entfernten Zukunft ansiedeln, nicht herumschlagen – wobei es da natürlich auch peinlich werden kann. Jedenfalls erfordert es ein gutes Verständnis aktueller Trends und eine sorgfältige Balance zwischen Innovation und Plausibilität, um eine glaubwürdige und fesselnde Geschichte zu erschaffen.“

Ideen nicht nur aus den USA und Großbritannien

Traditionell stark erscheinen heute in der Science-Fiction die Kulturindustrien der USA und Großbritanniens, doch Hermann betont, dass es eine Tradition auch in Staaten der früheren Sowjetunion und osteuropäischen Staaten gebe, dass heute einiges aus Lateinamerika, Asien und Afrika komme und dass etwa auch Frankreich mit Near-Future-Produktionen punkte (beispielsweise „Ad Vitam“, „Trepalium – Stadt ohne Namen“, „Im fremden Körper“).

„Deutschland ist kein Vorreiter, aber es gibt schon gute Beispiele“, sagt Isabella Hermann. „Herausragend ist etwa die fünfteilige ZDF-Serie "Das Blaue Palais" von Rainer Erler, die zwischen 1974 und 1976 gedreht wurde. Das namensgebende Blaue Palais ist eine schlosshafte Villa irgendwo auf dem Land, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Experimente mit neuen Technologien durchführen – von Hirnverpflanzungen bis Unsterblichkeit.“

„Near Future“ zeige meist Dystopien (Zukunft mit negativem Ausgang). Mitreißende Utopien (optimistische Zukunftsfiktionen) seien dagegen eher selten, sagt Hermann. „Eine positive Welt zu zeigen, das ist ungleich schwerer umzusetzen. Weil der Konflikt der Geschichte nicht durch die negative Entwicklung erzeugt werden kann und sich somit größere Herausforderungen an Plot und Personenzeichnung ergeben.“

Auffällig in diesem Zusammenhang: Utopien werden jetzt gern mal in die Vergangenheit verlegt, was Fachleute dann als Genre „Alternate History“ nennen. Prominenteste Beispiele dafür sind wohl Shonda Rhimes' Netflix-Serien „Bridgerton“ oder „Queen Charlotte: Eine Bridgerton-Geschichte“, die - mit einer schwarzen britischen Königin - in einer diversen Version der Regency-Ära im 19. Jahrhundert spielen.