Berlin. Die neue SPD-Spitze sieht die große Koalition kritisch. Bei „Anne Will“ zeigte sich, wie fragil der Zusammenhalt in der Regierung ist.

Am Ende eines denkwürdigen Abends meldet sich Saskia Esken noch einmal zu Wort. „Ich finde, wir verstehen uns eigentlich ganz gut“, sagte die designierte SPD-Chefin. Der Satz galt Armin Laschet, dem CDU-Ministerpräsidenten von NRW.

Beide Politiker hatten sich kurz zuvor im TV-Studio von Anne Will noch über Klimaschutz, die Schwarze Null und Zukunftsinvestitionen gestritten. Es ging hin und her.

Esken forderte zusammen mit ihrem Co-Partner an der SPD-Spitze, Norbert Walter-Borjans, deutlich mehr Geld für Straßen, Schulen, Digitalisierung. 500 Milliarden Euro zusätzlich in den nächsten zehn Jahren. Zur Not auch über Schulden finanziert.

Anne Will – Das waren die Gäste:

  • Saskia Esken (SPD)
  • Norbert Walter-Borjans (SPD)
  • Armin Laschet (CDU)
  • Katja Kipping (Die Linke)
  • Christoph Schwennicke, Chefredakteur des „Cicero“
  • Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin

Armin Laschet hielt dagegen, die Mittel für Zukunftsinvestitionen seien heute schon da, oft aber würden sie nicht abgerufen. Und überhaupt: „Sie reden die Erfolge kaputt, die Sie haben“, schleuderte er der neuen SPD-Führung entgegen. Auf Anne Wills Frage, wie lange die Zusammenarbeit zwischen Union und SPD so noch gut gehe, antworte die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch nur: „Nicht lange. Die Grundlagen fehlen“.

Wer die Schlussszene bei Anne Will am Sonntagabend sah, konnte meinen, dass es mit der neuen Führung der SPD auch auf ein Ende der Großen Koalition hinausläuft – trotz der freundlichen Worte von Saskia Esken zum Schluss.

Anne Will fragt: „Die SPD wählt linke Spitze – zerbricht jetzt die GroKo?

Und gerade am Ende zeigte sich: Die Finanzpolitik könnte zum Sprengsatz werden. „Der Dollpunkt ist nicht das Klimapaket, sondern die Schwarze Null“, sagte „Cicero“-Chefredakteur Christoph Schwennicke. Die neue SPD-Führung in Form von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans hatte bereits in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass ein ausgeglichener Bundeshaushalt für sie kein Mittel zum Zweck ist.

Im Rennen um den SPD-Parteivorsitz setzten sie sich auch mit dem Versprechen, wieder mehr Geld für sozialdemokratische Lieblingsprojekte auszugeben, gegen Finanzminister Olaf Scholz und Klara Geywitz durch – ein klares Votum der Basis gegen das Parteiestablishment. Oder, wie Anne Will es ausdrückte: „Der Brexit-Moment der SPD“.

Die Vorsitzenden der SPD seit 1946

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich die SPD neu organisieren. Der 1895 in Westpreußen geborene Kurt Ernst Carl Schumacher führte die Partei von 1946 bis 1952.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich die SPD neu organisieren. Der 1895 in Westpreußen geborene Kurt Ernst Carl Schumacher führte die Partei von 1946 bis 1952. © imago/ZUMA/Keystone | imago stock&people
Nach dem Tod Kurt Schumachers 1952 übernahm der gebürtige Magdeburger Erich Ollenhauer das Amt des SPD-Vorsitzenden. Er war zugleich SPD-Fraktionschef im Bundestag. Beide Ämter hielt er bis zu seinem Tod 1963.
Nach dem Tod Kurt Schumachers 1952 übernahm der gebürtige Magdeburger Erich Ollenhauer das Amt des SPD-Vorsitzenden. Er war zugleich SPD-Fraktionschef im Bundestag. Beide Ämter hielt er bis zu seinem Tod 1963. © imago/ZUMA/Keystone | imago stock&people
Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, übernahm den Parteivorsitz 1964 und hielt das Amt bis 1987.
Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, übernahm den Parteivorsitz 1964 und hielt das Amt bis 1987. © BM | imago/ Sven Simon
Der gebürtige Göttinger Hans-Jochen Vogel war SPD-Vorsitzender von 1987 bis 1991. Zuvor war er unter anderen Bürgermeister von München und Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen und hatte zwei Bundesministerien geführt.
Der gebürtige Göttinger Hans-Jochen Vogel war SPD-Vorsitzender von 1987 bis 1991. Zuvor war er unter anderen Bürgermeister von München und Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen und hatte zwei Bundesministerien geführt. © imago stock&people | imago stock&people
Björn Engholm führte die Sozialdemokraten von 1991 bis 1993. Er war der designierte Kanzlerkandidat seiner Partei, trat im Zuge der Barschel-Affäre aber von allen politischen Ämtern zurück.
Björn Engholm führte die Sozialdemokraten von 1991 bis 1993. Er war der designierte Kanzlerkandidat seiner Partei, trat im Zuge der Barschel-Affäre aber von allen politischen Ämtern zurück. © imago/Rainer Unkel | imago stock&people
Nach dem Rücktritt von Björn Engholm führte der spätere Bundespräsident Johannes Rau die SPD kommissarisch.
Nach dem Rücktritt von Björn Engholm führte der spätere Bundespräsident Johannes Rau die SPD kommissarisch. © imago/photothek | Thomas Imo
Bei einer Ur-Wahl 1993 sprach sich eine Mehrheit der SPD-Mitglieder für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping aus. Er führte die Partei bis 1995.
Bei einer Ur-Wahl 1993 sprach sich eine Mehrheit der SPD-Mitglieder für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping aus. Er führte die Partei bis 1995. © imago stock&people | imago stock&people
Oskar Lafontaine war von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender. 2005 verließ er die Partei und wechselte zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), die später in der Partei Die Linke aufging.
Oskar Lafontaine war von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender. 2005 verließ er die Partei und wechselte zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG), die später in der Partei Die Linke aufging. © BM | imago/ Jürgen Eis
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder übernahm den SPD-Vorsitz 1999 und hielt das Amt bis 2004.
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder übernahm den SPD-Vorsitz 1999 und hielt das Amt bis 2004. © imago stock&people | imago stock&people
Franz Müntefering führte die SPD von 2004 bis 2005. Er verzichtete 2005 auf eine erneute Kandidatur.
Franz Müntefering führte die SPD von 2004 bis 2005. Er verzichtete 2005 auf eine erneute Kandidatur. © BM | imago/ Rainer Unkel
Nach Münteferings Rückzug wurde Matthias Platzeck im November 2005 zum Vorsitzenden gewählt. Nach zwei Hörstürzen in den Wochen darauf trat er im April 2006 aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Nach Münteferings Rückzug wurde Matthias Platzeck im November 2005 zum Vorsitzenden gewählt. Nach zwei Hörstürzen in den Wochen darauf trat er im April 2006 aus gesundheitlichen Gründen zurück. © BM | imago/ Michael Schöne
Kurt Beck übernahm zunächst kommissarisch und wurde dann auf einem Sonderparteitag bestätigt. 2008 erklärte er seinen Rücktritt, nachdem durch Indiskretionen bekannt geworden war, dass Frank-Walter Steinmeier die SPD als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2009 führen sollte.
Kurt Beck übernahm zunächst kommissarisch und wurde dann auf einem Sonderparteitag bestätigt. 2008 erklärte er seinen Rücktritt, nachdem durch Indiskretionen bekannt geworden war, dass Frank-Walter Steinmeier die SPD als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2009 führen sollte. © imago stock&people | imago stock&people
Franz Müntefering stand von Becks Rücktritt 2008 bis zum schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zum zweiten Mal an der Parteispitze.
Franz Müntefering stand von Becks Rücktritt 2008 bis zum schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zum zweiten Mal an der Parteispitze. © BM | imago/ Rainer Unkel
Sigmar Gabriel wurde einer der langjährigsten Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei. Er führte die Partei von 2009 bis 2017 an.
Sigmar Gabriel wurde einer der langjährigsten Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei. Er führte die Partei von 2009 bis 2017 an. © imago stock&people | imago stock&people
Martin Schulz wurde am 19. März 2017 zum Vorsitzenden gewählt. Auf innerparteilichen Druck hin erklärte er nach seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur am 9. Februar 2018 schriftlich seinen „Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung“. Am 13. Februar 2018 gab er seinen Rücktritt bekannt.
Martin Schulz wurde am 19. März 2017 zum Vorsitzenden gewählt. Auf innerparteilichen Druck hin erklärte er nach seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur am 9. Februar 2018 schriftlich seinen „Verzicht auf den Eintritt in die Bundesregierung“. Am 13. Februar 2018 gab er seinen Rücktritt bekannt. © imago/ZUMA Press | Emmanuele Contini
Andrea Nahles, die erste Frau an der Parteispitze, führte die SPD von April 2018 bis Juni 2019. Am 2. Juni 2019 kündigte Nahles ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und Chefin der Bundestagsfraktion an. Die 48-Jährige legte auch ihr Bundestagsmandat nieder und kündigte an, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen.
Andrea Nahles, die erste Frau an der Parteispitze, führte die SPD von April 2018 bis Juni 2019. Am 2. Juni 2019 kündigte Nahles ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und Chefin der Bundestagsfraktion an. Die 48-Jährige legte auch ihr Bundestagsmandat nieder und kündigte an, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vorsitzender in Hessen, Manuela Schwesig (Mitte), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, übernahmen den Parteivorsitz im Juni 2019 kommissarisch.
Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vorsitzender in Hessen, Manuela Schwesig (Mitte), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, übernahmen den Parteivorsitz im Juni 2019 kommissarisch. © Adam Berry/Getty Images | Adam Berry
Ende 2019 hatten sich sechs Bewerberteams der SPD-Basis in 23 Regionalkonferenzen vorgestellt. Nach der ersten Wahl der Mitglieder gab es kein klares Ergebnis, deshalb traten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in einer Stichwahl gegen Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz an. Walter-Borjans und Esken setzten sich durch. Sie führten die Partei von Dezember 2019 bis Dezember 2021.
Ende 2019 hatten sich sechs Bewerberteams der SPD-Basis in 23 Regionalkonferenzen vorgestellt. Nach der ersten Wahl der Mitglieder gab es kein klares Ergebnis, deshalb traten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in einer Stichwahl gegen Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz an. Walter-Borjans und Esken setzten sich durch. Sie führten die Partei von Dezember 2019 bis Dezember 2021. © FUNKE Foto Services | Reto Klar
Norbert Walter-Borjans schied dann auf eigenen Wunsch aus der Parteiführung aus. Saskia Esken machte weiter. Beim SPD-Parteitag im Dezember 2021 entschied sich die Partei erneut für eine Doppelspitze.
Norbert Walter-Borjans schied dann auf eigenen Wunsch aus der Parteiführung aus. Saskia Esken machte weiter. Beim SPD-Parteitag im Dezember 2021 entschied sich die Partei erneut für eine Doppelspitze. © dpa
Neben Esken führt seither der bisherige SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil (*1978) die
Neben Esken führt seither der bisherige SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil (*1978) die "Alte Tante SPD". © Privat | Privat
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Doch die Rigorosität und Klarheit, mit der Esken und Walter-Borjans im SPD-Kandidatenrennen gegen die GroKo anredeten, auch die Erfolge der eigenen Politik in Frage stellten – sie war zumindest am Sonntagabend so nicht mehr erkennbar. Beide vermieden das klare Bekenntnis, dass die Zeit der großen Koalition zu Ende geht. Rhetorisch hat die neue SPD-Führung scheinbar abgerüstet.

SPD-Visionen von Esken und Walter-Borjans

Saskia Esken sagte zwar, dass man in der Koalition über neue Herausforderungen reden müsse.

  • Dazu zählte der Klimawandel,
  • der soziale Zusammenhalt, aber auch die Steuerpolitik.
  • Bei der Infrastruktur gebe es ebenfalls Sanierungsbedarf.

„Wenn neue Entwicklungen eintreten, muss man darauf reagieren“, stimmte CDU-Mann Laschet zu.

Das alles klang geschäftsmäßig-freundlich. In der „Bild am Sonntag“ hatte Esken noch ein „Update für den Koalitionsvertrag“ gefordert, sonst müsse die SPD den „geordneten Rückzug“ antreten, wie Anne Will anmerkte – doch davon war im TV-Studio plötzlich nicht mehr die Rede. Fraglich ist, ob die neue SPD-Spitze auch bei deren Wahlkampfthemen einlenkt – wie etwa der Arbeitsmarktpolitik. CDU-Vize Volker Bouffier warnt im Interview: Die Hartz-IV-Sanktionen müssen bleiben.

Auch Norbert Walter-Borjans verwies lediglich auf die sogenannte Revisionsklausel im Koalitionsvertrag, die vorsieht, das Bündnis zur Hälfte der Legislatur, also jetzt, zu überprüfen – mehr nicht.

Für Armin Laschet ist dieses Vorgehen soweit in Ordnung. Nur ein „Nachverhandeln“ des Koalitionsvertrages sei mit der Union nicht zu machen, sagte er. Die designierten SPD-Chefs bemühten sich sogleich, nicht diesen Eindruck zu erwecken. Dabei zeigte sich in Umfragen zuletzt: Eine Mehrheit der Deutschen ist für einen SPD-Austritt aus der GroKo.

Dass Esken und Walter-Borjans plötzlich deutlich umgänglicher auftraten und entsprechende Bekenntnisse oder Absagen vermieden, war wohl die größte Überraschung des Abends.

Abseits dessen bot die Runde bei Anne Will viel Erwartbares: Das neue Führungsduo bemühte sich, die Wogen innerhalb der Partei zu glätten. Der unterlegene, man könnte aber auch sagen gedemütigte, Olaf Scholz solle natürlich weiterhin Bundesfinanzminister bleiben, er werde gebraucht.

Sind Esken und Walter-Borjans für SPD-Vorsitz geeignet?

Dass in absoluten Zahlen nur rund ein Viertel der Parteimitglieder für das Duo Esken/Walter-Borjans gestimmt hat, ein großer Sieg also anders aussieht, schien die beiden nicht weiter zu stören. Warum Anne Will auch die Linken-Chefin Katja Kipping in die Runde eingeladen hat, bleibt wohl das Geheimnis der Redaktion.

Mehr als Phrasen („Eines ist total offensichtlich: Die GroKo ist fertig“) hatte Kipping nicht zu bieten. Wer also gehofft hat, mehr über eine mögliche rot-rot-grüne Machtperspektive im Bund zu erfahren, wurde enttäuscht. Immerhin blieb Christoph Schwennicke seiner Rolle treu. Der Chefredakteur des konservativen „Cicero“ ließ es sich nicht nehmen, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Eignung für den SPD-Vorsitz abzusprechen.

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SPD: Ende einer Volkspartei?

Beiden verfügten nicht über genügend Erfahrung. Bei Esken verwies Schwennicke auf ihre Arbeit im Landeselternbeirat in Baden-Württemberg – ohne überhaupt genau zu wissen, wie das Gremium heißt. Andererseits: Es wäre eine große Überraschung gewesen, wenn Schwennicke die neue linke Führung der SPD gelobt hätte.

Möglich aber, dass es zu einem späteren Zeitpunkt doch dazu kommt. Dann nämlich, wenn Esken und Walter-Borjans das tun, womit aktuell niemand rechnet. Und die SPD in der großen Koalition halten. Wie es nach dem SPD-Beben weitergehen könnte, wissen unsere Reporter. Dabei stellt sich auch die Frage, ob die SPD eine Volkspartei bleibt.

Anne Will in der Mediathek anschauen

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe von „Anne Will“ in der ARD-Mediathek.