Berlin Die Grünen zielen mit Annalena Baerbock auch auf junge Wähler – doch beim jungen ProSieben-Publikum tut sich die Kandidatin schwer.
Die Frage von Louis Klamroth ist knallhart. Der ProSieben-Moderator drängt Annalena Baerbock zu einer Antwort: "Würden Sie den Taliban Geld zahlen, um Menschen zu retten?"
Die Grüne spricht erst noch vom "absoluten Dilemma" der Außenpolitik, und fordert eine sofortige Afghanistan-Konferenz mit Nato, Anrainern, China und Russland. Schließlich gibt die Kanzlerkandidatin nach: "Um die geschätzt 50-70.000 bedrohte Menschen zu retten, gibt es nur die Möglichkeit: mit den Taliban zu verhandeln."
Kein Blabla, hatte ProSieben in der Werbung zu der neuen "Bundestagswahl-Show" versprochen, sondern Fragen, die wehtun. Der Münchner Privatsender wollte der möglichen neuen Regierungschefin vor der Bundestagswahl "auf den politischen und den privat-politischen Zahn fühlen".
Für den Sender, der gerne mit Formaten wie "Duell um die Welt" oder "Schlag den Star" unterhält, war dieser – als Show getarnte – Politik-Talk zumindest ein Novum, wenn nicht ein Risiko. Sicherheitshalber forderte Louis Klamroth in einem Trailer die ProSieben-Zuschauenden kurz vorher noch einmal auf, bloß nicht abzuschalten: "Langweilig wird das garantiert nicht!"
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"Bundestagswahl-Show": Baerbock spielt munter mit
Nun ja. Wirklich Neues über die Kanzlerkandidatin aus Brandenburg haben die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht erfahren. Zumindest der erfahrene Polit-Talker Klamroth, der für sein "Klamroths Konter" beim Nachrichtensender ntv 2018 den Deutschen Fernsehpreis erhalten hatte, stieg gut vorbereitet in die Arena.
Lässig fragte er queerbeet, wechselte blitzschnell zwischen den Themen und verwies gerne, wenn es gerade spannend wurde, auf "dazu kommen wir später". Diese Taktik ist einerseits gut, weil sie eingeübte Sprechblasen im Keim ersticken konnte. Andererseits kam die Kanzlerkandidatin der Grünen dadurch leider auch selten dazu, einen Gedanken wirklich auszuführen.
Trotzdem, Annalena Baerbock spielt mit. Munter und flexibel versucht sie, alle Fragen "so ehrlich wie möglich" zu beantworten. Kleine Patzer verspielen sich. Und unwillige Antworten beim hybriden "Statement-Tinder" werden von Klamroth auch mal großzügig "geskippt".
Was aber ProSieben-Zuschauern, die die Show parallel via Twitter und Instagram verfolgen, wohl mehr interessiert als alle seine Fragen zu Afghanistan, CO2-Bepreisung oder Kohle-Ausstieg: Welche Musik wird in Zukunft im Kanzleramt laufen? "Rock- und Kindermusik", antwortet Baerbock.
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Annalena Baerbock: Verhaltene Sympathien aus dem Publikum
Nach 90 Brutto-Minuten – fast 30 Minuten sind Werbung – wissen die Zuschauenden auf jeden Fall: Die potenziell nächste Bundeskanzlerin scheint sympathisch. Vor allem aber besitzt sie Energie ohne Ende. Ihr Wahlgegner Olaf Scholz (SPD), der am 15. September in die gleiche Arena steigen wird, sollte das bedenken. Unions-Kandidat Armin Laschet hatte von vorneherein abgesagt.
Auch bei ihrer dritten Station an diesem Tag wirkt Annalena Baerbock noch fit wie ein Turnschuh, trotz Hackenschuhen. Im Anschluss soll es im Tour-Bus noch nach Bielefeld gehen, verrät sie zu Anfang, wo am nächsten Morgen der nächste Wahlkampfauftritt ansteht: "Hat jemand Lust mitzukommen?" lädt sie die Zuschauer im Corona-konform nur zur Hälfte besetzten Berliner Studio ein.
Die lachen überrascht, halten sich mit Sympathie-Bekundungen aber zurück. Niemand wird im Verlauf des Abends preisgeben, ob er oder sie nach dieser Show das Kreuzchen bei den Grünen machen wird. Für Pauline Brünger, Klimaaktivistin von "Fridays for Future" wollen die Grünen sowieso "nicht genug", um das Klima zu retten. Sie will lieber zwei Tage vor der Bundestagswahl auf die Straße gehen als wählen.
Sei’s drum, die Grünen-Kanzlerkandidatin ist eine "Kämpferin" – als solche würde sie sich jedenfalls selbst bezeichnen, antwortet Annalena Baerbock, als sie nach einer Überschrift gefragt wird, die sie am besten charakterisieren könnte. Auf dem Land aufgewachsen, hat sie erst Fußball gespielt, später dann lieber Doppelkopf als Poker – soviel zu den Themen Bluffen und Teamwork.
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Grüne will "das Beste aus Deutschland herausholen"
Erst wollte sie Kriegsreporterin werden, "um über die Übel der Welt zu schreiben". Als Politikerin will sie nun "das Beste aus Deutschland herausholen". Deshalb tritt sie an. Nur wann genau das mit ihrem Bäckerei-Job war, zu dem sie "immer pünktlich" radelte, weiß sie nicht mehr so genau: Kurz vor oder nach dem Abitur?
Ihr ehemaliger Chef, Axel Oppenborn, sitzt ebenfalls im Studio und freut sich über das Wiedersehen nach langer Zeit. Als Unternehmer mit inzwischen 200 Mitarbeitern hat der Bäcker ansonsten aber andere Sorgen: Woher soll das Geld kommen, wenn der Mindestlohn in seiner Branche von aktuell "9 auf 12 Euro steigen soll, also um 25 Prozent?" Schon jetzt würden die Lohnkosten 50 Prozent betragen.
Annalena Baerbock versteht, was ihn plagt: "Über Qualität", schlägt sie vor. Und über eine verbesserte Kennzeichnung der Ware, die die regionalen Zutaten offenlegt. So soll seine Ware von der Billig-Konkurrenz unterscheidbarer werden. Auch was die vom Bäcker angemahnten fehlenden Fachkräfte angeht, hat Baerbock genaue Vorstellungen: "Wir brauchen Zuwanderung. Ein echtes Einwanderungsgesetz."
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"Bundestagswahl-Show": Fragen kommen Schlag auf Schlag
Neben einem kritischen Landwirt, der den Umbau seiner Schweinzucht auf Bio "absolut utopisch" nennt, dürfen – Schlag auf Schlag – noch fragen: eine Erstwählerin, die wissen will, wie sie in die 40 Kilometer entfernte Uni kommen soll, wenn der Benzinpreis 2023 um 60 Cent steigt. Eine Hartz-IV-Aufstockerin, die fürchtet, dass sie keine Randzeiten-Betreuung für ihr Kind findet und deshalb auch keine Arbeit. Und eine Kinderkrankenschwester, deren Tochter gerade als Pflegerin wegen Überlastung gekündigt hat.
Alles echte Probleme von echten Menschen, mitten aus dem Leben. Und kein Spiel, kein Spaß oder Show, nirgendwo. Dann meldet sich noch ein Unternehmer, diesmal mit chinesischem Hintergrund: Er habe die FDP mit einer großen Spende unterstützt, weil er den Grünen nicht glaube, dass Politiker besser wüssten, was der nächste Exportschlager wäre.
Annalena Baerbock nickt. Nur müsse der Staat eben auch dafür sorgen, dass die Infrastruktur zur Verfügung gestellt werde: "Wenn wir jetzt nichts tun, steigt das Risiko, dass wir in einer Sackgasse landen."