Berlin. Lehrer warnen: Die Handschrift der deutschen Schüler hat sich verschlechtert. Es geht nicht um Schönschrift – sondern ums Denkenlernen.

Was machen die Finger im digitalen Zeitalter? Nichts. Oder fast nichts: Kurznachrichten tippen, über den Bildschirm wischen, durch Webseiten scrollen – alles mit der Ein-Finger-Methode.

Der Rest wird überflüssig: Die Handschrift als komplexe Fingerübung verschwindet zunehmend aus dem Alltag. Eine neue Lehrerumfrage schlägt deswegen jetzt Alarm: Die Handschrift der deutschen Schüler hat sich weiter verschlechtert.

Es geht nicht nur um Schönschrift oder Sauklaue

Doch es ist nicht der Ärger über die grassierende Sauklaue vieler Kinder. Dahinter steckt mehr: Forscher können belegen, dass Schreiben per Hand schlau macht. Wer früh seine Feinmotorik trainiert, trainiert auch sein Denkvermögen.

„Das Schreiben mit der Hand ist genauso wichtig wie das Lesen und die Rechtschreibung“, sagt Marianela Diaz Meyer, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Schreibmotorik Instituts. „Es geht dabei nicht in erster Linie ums Schönschreiben oder um eine Kulturtechnik, die heute mehr oder weniger verzichtbar erscheint.“

Beim Handschreiben gehe es um Bildung: „Handschreiben unterstützt die Rechtschreibung, das Lesen, das Textverständnis, letztlich die schulischen Leistungen insgesamt.“ Die große Mehrheit der befragten Lehrer sieht das genauso.


Repräsentative Umfrage unter mehr als 2000 deutschen Lehrern

Wer Dinge mit einem Stift notiert, kann sie sich oft besser merken.
Wer Dinge mit einem Stift notiert, kann sie sich oft besser merken. © dpa | Bernd Wüstneck

Und sie machen sich Sorgen: Neun von zehn Lehrern in Deutschland sehen eine Verschlechterung der Handschrift der Schüler – in der Grundschule, aber auch in höheren Klassen. Das ist das zentrale Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) gemeinsam mit dem Schreibmotorik Institut von September 2018 bis Januar 2019 durchgeführt hat. An der Online-Befragung beteiligten sich bundesweit über 2000 Lehrkräfte.

Nur vier Prozent der befragten Lehrer in weiterführenden Schulen sind demnach mit der Handschrift ihrer Schüler zufrieden. Grundschullehrer sagen, dass mehr als ein Drittel der Kinder Probleme habe, eine gut lesbare, flüssige Handschrift zu entwickeln.

Jungen haben öfter Probleme mit der Handschrift als Mädchen

Lehrkräfte von weiterführenden Schulen sehen im Schnitt sogar bei 43 Prozent ihrer Schüler Schwierigkeiten. Jungen sind deutlich stärker betroffen: Nach Einschätzung Lehrer in der Grundschule haben 45 Prozent der Jungen Probleme mit dem Handschreiben, aber nur 29 Prozent der Mädchen. In der weiterführenden Schule haben nach Lehrermeinung sogar 53 Prozent der Jungen Probleme und nur 33 Prozent der Mädchen.

Insgesamt stellen zwei von drei Lehrern aus allen Schulformen fest, dass ihre Schüler häufig oder sehr häufig unleserlich und zu langsam schreiben. Hinzu kommt: Nur zwei von fünf Jugendlichen in höheren Klassen können 30 Minuten und länger beschwerdefrei schreiben.

Zu den Ursachen zählen aus Lehrersicht zu wenig Routine, schlechte Motorik und Koordination sowie Konzentrationsprobleme. Auch die fortschreitende Digitalisierung der Kommunikation und der starke Medienkonsum wird von mindestens der Hälfte der Befragten als problematisch eingestuft.

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Wer mit der Hand schreibt, übt auch sein Denkvermögen

Das Problem: In etlichen Studien haben Forscher in der Vergangenheit gezeigt, wie eng Schreibmotorik, Koordination und kognitive Leistungen zusammenhängen. Wer mit der Hand schreibt, trainiert zum Beispiel seine Merkfähigkeit: Forscher haben beobachtet, dass Studenten, die sich Notizen mit dem Laptop machen, dazu neigen, eine Vorlesung lediglich zu kopieren. Wer sich dagegen mit Hand Notizen macht, verarbeitet die Information während des Schreibens, überträgt sie dabei in eigene Worte und verschafft sich sei einen Lernvorteil.

Auch Kinder lernen demnach zum Beispiel neue Buchstaben besser, wenn sie sie in Schreibschrift und nicht nur über eine Tastatur einüben. Forscher fanden zudem Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Erlernen einer Handschrift und der Fähigkeit, Texte zu verfassen. Jeder kennt das: Wer mit der Hand schreibt, muss genauer planen was und wie er schreiben will – weil die Löschtaste fehlt. Und schließlich hat sich gezeigt: Kinder mit weniger ausgeprägten grafischen Fähigkeiten schneiden oft schlechter bei Diktaten ab, Lehrer oder andere Erwachsene bewerten Texte mit schöner Handschrift besser als solche mit schlechterer Lesbarkeit.

Der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann mahnt: Es sei essenziell, dass Schüler lernten, mit der Hand zu schreiben, „denn hier werden andere Denkprozesse als beim Tippen angestoßen“. Die Politik müsse Schreibübungen besser in den Lehrplänen verankern und dafür sorgen, dass die Lehrer genügend Zeit für die individuelle Förderung in die Schulen hätten. Laut Experten reicht schon eine Stunde schreibmotorisches Training pro Woche, damit Kinder signifikant besser und schneller schreiben lernen.

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KMK-Präsident fordert stärkere Förderung der Handschrift in der Schule

Unterstützung kommt aus der Politik: Der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK) fordert eine stärkere Förderung der Handschrift in den Schulen: „Wann immer es möglich ist, also auch in den höheren Klassen, sollte mit der Hand geschrieben werden“, sagte der hessische Kultusminister unserer Redaktion.

Gerade weil die Digitalisierung weiter voranschreite, sei es umso wichtiger, dass die Schule dafür sorge, dass alle Schüler eine individuelle und gut lesbare Handschrift bis zum Ende der Grundschulzeit entwickelt hätten. „Mit der Hand zu schreiben entwickelt nicht nur die motorischen Fähigkeiten, die Handschrift ist auch ein wertvolles Kulturgut, das auch die Individualität des Menschen zeigt.“

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sprach sich ebenfalls für eine Förderung des Handschreibens aus: „Mit der Hand zu schreiben ist und bleibt für mich eine wichtige Kultur- und Arbeitstechnik“, sagte die CDU-Politikerin unserer Redaktion. „Sie ist Ausdruck der Persönlichkeit. Bei Kindern fördert es die geistige Entwicklung. Und es ist doch auch bekannt: Vieles bleibt besser im Kopf, wenn man es von Hand notiert hat.“ (Julia Emmrich)