Berlin. Eine HIV-Infektion lässt sich inzwischen sehr gut behandeln. Doch viele Betroffene sind in ihrem Alltag mit Vorurteilen konfrontiert.

Laut einer aktuellen Schätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) lag die Zahl der Menschen mit HIV in Deutschland Ende 2021 bei rund 90.800. Demnach haben sich im vergangenen Jahr etwa 1800 Personen neu mit dem "Humanen Immundefizienz-Virus" infiziert.

Die Diagnose ist meist noch immer ein Schock. Anders als früher ist sie aber längst kein Todesurteil mehr. Bei rechtzeitiger medikamentöser Behandlung lässt sich ein Ausbruch von AIDS verhindern. Meist gelingt es sogar, das Virus im Körper so einzugrenzen, dass es im Blut gar nicht mehr nachweisbar ist. Bei konsequenter Therapie ist HIV dann auch sexuell nicht mehr übertragbar.

HIV-Positive können dank moderner Medikamente leben wie alle anderen auch. Das Problem: In den Köpfen vieler ist dieses Wissen nicht angekommen. Durch Diskriminierung nimmt das Virus im Alltag der Menschen weiter viel Raum ein und macht ihnen das Leben unnötig schwer – gerade im medizinischen Kontext.

Aber auch Kleinigkeiten können alte Wunden aufreißen oder ungewollt ausgrenzen: übergriffige Fragen, Zurückweichen bei Hautkontakt. Sieben Menschen mit HIV haben anlässlich des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember mit uns über ihre Erfahrungen gesprochen. Lesen Sie auch: Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um HIV

Lillian (52) über ihr Leben mit HIV: „Zu denken: ,Selbst schuld‘ – das ist nicht okay“

Lillian aus Saarbrücken.
Lillian aus Saarbrücken. © PR/WAT
  • Wohnort: Saarbrücken
  • Beruf: Studierte Bürokauffrau
  • Beziehungsstatus: verheiratet, hat eine 21-jährige Tochter und eine vier Monate alte Enkelin

Ich bin aus Uganda geflohen und kam als Migrantin nach Deutschland. Ich hatte Tuberkulose, bei einem Zwangstest habe ich dann erfahren, dass ich zusätzlich HIV-positiv bin. Es war eine wirklich harte Zeit. In meiner Heimat ist HIV noch stärker stigmatisiert als hier – und das, obwohl das Infektionsrisiko viel höher ist und das Virus weiter verbreitet. Man wurde automatisch enterbt. Mir wurde unterstellt, ich könne mich nicht mehr um meine Familie kümmern. Selbst in Deutschland wurde mir empfohlen, meine Tochter abzutreiben.

Im Alltag spüre ich oft, dass Menschen versuchen, mich in eine Schublade zu stecken, genau wie andere Infizierte. Die Frage danach, wie ich mich angesteckt habe, kommt immer wieder. Aber sie ist nie hilfreich und sehr anmaßend. Bei einigen kann sie auch Wunden aufreißen. Es käme doch auch keiner auf die Idee, eine Diabetikerin zu fragen, wie ungesund sie sich ernährt hat, oder einen Krebskranken, wie viel er geraucht hat oder ob seine Familie vorbelastet ist. Nur um sich dann zu denken: „Selbst schuld.“ Das ist nicht okay.

Oliver (25) lebt mit HIV: „Ich hatte Angst vor Zurückweisung“

Oliver aus Nordrhein-Westfalen.
Oliver aus Nordrhein-Westfalen. © PR/WAT
  • Wohnort: Nordrhein-Westfalen
  • Beruf: Psychologie-Student
  • Beziehungsstatus: ledig, wechselnde queere Partnerschaften

Ich habe bei einer Routineuntersuchung erfahren, dass ich HIV-positiv bin. Damals war die Viruslast noch recht hoch. Ich hatte mich also offenbar recht frisch infiziert. Ich habe mich aber nie als krank gesehen, da ich keinerlei Symptome habe oder hatte.

Das ist natürlich ein medikamentöser Erfolg. Aber dadurch, dass HIV so gut behandelbar ist, ist auch das gesellschaftliche Engagement viel geringer geworden. HIV ist ein Problem, das sich ins Private verschoben hat. Mir ist es dadurch viel schwerer gefallen, darüber zu sprechen, und ich habe lange verheimlicht, dass ich positiv bin. Nur zwei Freunde wussten Bescheid.

Aus Angst vor Zurückweisung habe ich mich selbst komplett zurückgezogen. Aber dadurch, dass mir der Abgleich mit der Realität gefehlt hat, wurden meine eigenen Vorurteile nur noch größer, als sie es hätten sein müssen. Negative Glaubenssätze wurden Alltag. Damit konnte ich alleine gar nicht fertigwerden und habe eine schwere Depression entwickelt. Mich zu öffnen, war ein Befreiungsschlag. Ich merkte: Viele Menschen sind wirklich interessiert und wollen ihre HIV-Bildungslücke schließen.

Im Video erklärt: Das ist der Unterschied zwischen HIV und AIDS

Videografik: HIV/AIDS

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    Julia (31) über HIV: „Ich bin nicht extra krank oder besonders“

    Julia aus Köln.
    Julia aus Köln. © PR/WAT
    • Wohnort: Köln
    • Beruf: Heilerziehungspflegerin, Agrarwissenschaft-Studentin
    • Beziehungsstatus: ledig, in einer festen Beziehung

    Die Diagnose bekam ich vor einer Knochenmarkspende. Anfangs spielten Schuldgefühle eine große Rolle, gerade durch die Familie meines damaligen Freundes. Zum Glück habe ich damit meinen Frieden gemacht – bin raus aus der Gefühlschaos-Endlosschleife. Heute möchte ich anderen jungen Frauen mit HIV Mut machen, ihnen zeigen, dass die Diagnose ihr Leben nicht dominieren muss. Aber mein Rat wäre immer: Sprecht mit eurem Umfeld.

    Ich habe aus Angst vor Vorurteilen lange ein Doppelleben geführt. Das war das, was mich am Ende eher krank gemacht hat als das Virus selbst. Sich zu öffnen, war befreiend. Nur meinem Arbeitgeber habe ich es nicht gesagt. Aber auch ein Diabetiker würde mit seiner Erkrankung nicht hausieren gehen. Ich bin nicht extra krank oder extra besonders. Ich bin einfach nur Julia.

    Klar habe auch ich heute noch immer Angst vor Zurückweisung – gerade, wenn es um Liebesbeziehungen geht. Zum Glück habe ich es geschafft, mir meinen Selbstwert wieder hart zu erarbeiten. Und auch mein verantwortungsbewusster Umgang mit der HIV-Infektion hilft mir und meinem Umfeld sehr. Auch interessant: HIV bleibt ein Stigma – ist aber längst kein Todesurteil mehr

    Anika (63) über Diskriminierung wegen HIV: „Auf meinem Platz stand ein Schild: ,HIV!‘“

    Anika aus Hanau.
    Anika aus Hanau. © PR/WAT
    • Wohnort: Hanau
    • Beruf: Lockführerin a. D., Trans*-Aktivistin
    • Beziehungsstatus: geschieden, aktuell nicht in einer Beziehung

    2012 ging es mir gesundheitlich richtig schlecht. Zur Sicherheit habe ich mich testen lassen: positiv. Kurz darauf war ich schon auf der Intensivstation. Es stand Spitz auf Knopf. Ein Arzt sagte mir, dass er das mit meinen Werten sicher nicht überlebt hätte. Aber ich wollte es unbedingt schaffen. Ich hatte noch eine Mission. Damals war ich ein Mann. Heute zähle ich mich zum weiblichen Geschlecht.

    Ich erzähle in meinem Umfeld nicht vielen, dass ich positiv bin – nur engen Freunden und Sexualkontakten. Ich kann mir aber vorstellen, dass durch meine Medienpräsenz nun Sprüche kommen wie „Schau, die Transe hat auch HIV. Ich hab’s mir doch gedacht“. Diese Vorurteile scheinen leider tief verwurzelt. Lesen Sie auch den Kommentar: Das neue Transsexuellen-Gesetz bringt endlich ein Stück Normalität

    Ich bin heute zwar deutlich abgeklärter als noch vor 20 Jahren und lasse nicht mehr so viel an mich ran. Trotzdem sticht jeder dumme Spruch immer in der Seele. Wirklich heftig für mich war aber das Schild „HIV!“ auf meinem Platz in der Kantine der Reha-Einrichtung, in die ich nach meinem Krankenhausaufenthalt kam. Das darf man nicht mit sich machen lassen.

    Hildegard (75) lebt mit HIV: „Schon mal gehört, dass Leute Sex haben?“

    Hildegard aus Lübeck.
    Hildegard aus Lübeck. © PR/WAT
    • Wohnort: Lübeck
    • Beruf: Hotelmanagerin in Rente
    • Beziehungsstatus: geschieden, mittlerweile bewusst allein lebend

    Nach einer Blutspende bekam ich vor 25 Jahren einen Brief, die Werte würden abweichen. Ein sehr unsensibler Arzt teilte mir dann mit, ich sei HIV-positiv. Er gab mir noch zwei bis vier Jahre. Schon damals aus medizinischer Sicht vollkommener Quatsch.

    Später war eine OP geplant. Meine Gebärmutter sollte entfernt werden. Ich war schon im Hemdchen, komplett vorbereitet. Dann hat man wegen meiner Diagnose wieder alles abgebrochen, mich einfach weggeschickt. Das war wirklich schrecklich. Ich war total niedergeschmettert und bin wie so ein geprügelter Hund nach Hause gegangen.

    Heute kann ich mich viel besser wehren und bin Diskriminierung nicht mehr hilflos ausgeliefert. Denn dumme Fragen bekomme ich auch heute noch regelmäßig. Leute interessiert etwa immer brennend, wo ich das herhabe. Da sage ich mittlerweile trocken: „Schon mal davon gehört, dass Leute Sex haben?“ Abgesehen von solchen übergriffigen Fragen bin ich aber dankbar, wenn Menschen mich einfach offen ansprechen. Denn klar ist: Wissen schützt vor Vorurteilen. Lesen Sie auch den Kommentar: Warum Diskriminierung nicht nur Minderheiten etwas angeht

    David (42) über Reaktionen auf seine HIV-Infektion: „Dumme Kommentare kann ich gut ausblenden“

     David aus Berlin.
     David aus Berlin. © PR/WAT
    • Wohnort: Berlin
    • Beruf: Technischer Produktdesigner
    • Beziehungsstatus: geschieden, in fester Beziehung lebend, hat einen zehnjährigen Sohn

    Ich habe 2010 im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung durch Zufall von der Infektion erfahren. Ich war aber wohl schon länger positiv. Dass ich HIV haben könnte, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Was ich daraus gelernt habe: Es kann jeden treffen, unabhängig von sexueller Aktivität oder Orientierung.

    Zum Glück habe ich eine sehr positive Grundhaltung und nach nur einer Woche in einem tiefen Loch ging das Leben weiter. Ich habe nach vorne geblickt. Mein Umfeld hat mich dabei sehr unterstützt. Vorwürfe gab es keine. Ob das auch daran liegt, dass ich nicht zur Klischeezielgruppe gehöre? Gut möglich. Lesen Sie auch: Frau in den USA dank Stammzellentherapie offenbar von HIV geheilt

    Die wenigen dummen Kommentare, die mitunter kommen, kann ich gut ausblenden. Ich will mich nicht über jeden Mist aufregen. Nur einige Erlebnisse bei Ärzten machen mich noch immer fassungslos. Ein Beispiel: Ich habe chronische Probleme mit den Handgelenken und war wegen einer Schwellung bei einer neuen Orthopädin. Diese zog sich zum Abtasten erst mal Handschuhe an – nur weil sie mich anfassen musste. Das war wirklich krass.

    Sabine (64) über ihr Leben mit HIV: „Heutzutage hat mich das wirklich geschockt“

    Sabine aus Berlin.
    Sabine aus Berlin. © PR/WAT
    • Wohnort: Berlin
    • Beruf: Sekretärin in Rente, Altaktivistin
    • Beziehungsstatus: geschieden, Single

    Bei einem Bluttest habe ich Ende der 80er-Jahre erfahren, dass ich HIV-positiv bin. Ich bin dann sogar an AIDS erkrankt. Erst fünf Jahre nach der Diagnose habe ich angefangen, Medikamente zu nehmen – auch aus Angst vor den teils schweren Nebenwirkungen. Mehr zum Thema: HIV-Patient laut Forschenden geheilt – Zweiter Fall weltweit

    Mittlerweile bin ich gut versorgt. In meiner Heimat Berlin habe ich das Glück, dass es viele Schwerpunktärzte gibt. Und auch sonst genug Auswahl an Praxen. Denn in medizinischen Bereichen, die nicht explizit HIV betreffen, sind die Vorurteile und das Unwissen oft erschreckend.

    Ich war kürzlich bei einer Augenärztin im Kiez. Hatte mich im Vorfeld nicht „geoutet“, da es dafür keinen Grund gab. Ich habe ihr dann im Behandlungszimmer erzählt, dass ich HIV-positiv bin. Sie rollte sofort von mir weg, empörte sich, dass ich das am Tresen von Anfang an hätte sagen müssen. Auf Nachfrage warum, überlegte die Ärztin kurz und meinte: Dann hätte man entscheiden können, ob man mich überhaupt behandeln wolle. Es hat mich wirklich geschockt, dass eine Ärztin heutzutage so diskriminierend und nicht im Geringsten aufgeklärt war.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.