Gera. Nach dem Tod eines Säuglings befürchtet der Verteidiger eine Befangenheit der Rechtsmedizin Jena und will nun die Kollegen aus Münster einschalten.

Der Fall bewegt die Menschen im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt: Ist eine Pflegemutter verantwortlich für den Tod eines elf Monate alten Säuglings? Angeklagt ist sie wegen Totschlags. Doch einige Umstände im Fall am Landgericht Gera führen zu Zweifeln, ob sie wirklich Schuld trägt. Inzwischen ist das Urteil gefallen.

Die Angeklagte ist als fürsorgliche Pflegemutter bekannt. Mitarbeiterinnen des Jugendamtes loben die Altenpflegerin, die seit 2014 bis heute ein Mädchen großzieht, das als Baby ein Schütteltrauma erlitten hatte. Mit ihrem heutigen Ex-Mann nahm sie ein weiteres Pflegekind auf, das nun bei ihm lebt.

Angeklagte nimmt pflegebedürftiges Kind auf

2017 schließlich freut sie sich darauf, ein weiteres pflegebedürftiges Kind zu übernehmen. Das Mädchen war zu früh zur Welt gekommen. Ein Großteil des Dünndarms musste entfernt werden. Über einen Katheter in den Magen erfolgte die künstliche Ernährung, über einen zweiten Katheter wurden Nährstoffe direkt ins Herz gebracht.

Im Dezember 2017 nimmt die Frau, die vom Jugendamt als übervorsichtig beschrieben wird, das Kind auf. Sie ist es auch, die am Nachmittag des 29. Januar 2018 kurz nach 16 Uhr den Notruf wählt, weil sich das Mädchen nach dem Quarkessen erbrochen habe und aspiriere. Der Notarzt bringt das Kind nach Saalfeld in die Klinik. Von dort fliegt ein Hubschrauber nach Jena ins Universitätsklinikum.

Notoperation im Uniklinikum Jena rettet das Leben nicht

Eine Computertomografie zeigt eine Blutung im Hirn, das deutlich angeschwollen ist. Die Ärzte entscheiden, einen Teil der Schädeldecke zu öffnen. Doch die Entlastung schlägt fehl. 90 Minuten versuchen sie, das Kind auf dem OP-Tisch wiederzubeleben. Als der Tod unabwendbar ist, startet die Palliativbehandlung. Das Mädchen verstirbt 22.55 Uhr.

Die Rechtsmedizin Jena stellt bei der Obduktion eine potenziell tödliche Morphinmenge im Blut fest. Als Todesursache macht die promovierte Rechtsmedizinerin Michaela Böhm aber ein Schütteltrauma aus. Zerrissene Nervenfasern und Netzhauteinblutungen seien nicht anderweitig zu erklären, sagt sie auch unter Berufung auf einen Neuro­pathologen.

Älteres Hämatom unter der Schädeldecke

Die Computertomographie zeigt auch ein älteres Hämatom und eine maximal eine Woche alte Blutung im Hirn. Eine Woche zuvor war das Kind im Jenaer Universitätsklinikum stationär zur Behandlung. Der Pflegemutter und einer Zeugin war die Wesensveränderung des Kindes aufgefallen. Ein Foto zeigt eine Beule. Dass allerdings das Schütteltrauma schon zu diesem Zeitpunkt entstanden ist, schließt die Rechts­medizinerin aus. Das Kind sei drei Tage vor dem Tod ohne entsprechende Befunde entlassen worden. Ein symptomfreies Intervall gebe es nicht. Allerdings: Eine Vorschädigung unterstellt, könne durchaus ein deutlich weniger starkes Schütteln reichen, um dem Kind ein Schütteltrauma zuzufügen, sagt die Rechtsmedizinerin. Ein einziges Rütteln genüge jedoch nicht.

Wann genau das Schütteltrauma am 29. Januar entstanden ist, sei nicht zu sagen, so Böhm. Am wahrscheinlichsten sei „zeitnah zum Symptombeginn“. Dass es dem Kind auf dem Weg in die Klinik zugefügt wurde, schließt sie aus, weil der Notarzt bereits von Streck­synergismen am Einsatzort berichtet hat. Ein Schütteln durchs Geschwisterkind sei keine Option, sagt die Ärztin. Bleibt nur die Pflegemutter, die vorher in Kontakt mit dem Kind war.

Verteidiger stellt Befangenheitsantrag

Verteidiger Markus Kruppa stellt einen Befangenheitsantrag gegen die Rechtsmedizinerin und den Neuropathologen, weil sie „aufgrund kollegialer Verbundenheit Einschätzungen zum Nachteil seiner Mandantin getroffen haben könnten“. Es sei nicht zu verstehen, warum die Rechtsmedizin Jena einen Fall des eigenen Uniklinikums untersuche, zumal die Klinikaufenthalte nicht komplikationslos verlaufen seien, die Dokumentation Lücken aufweise, die verabreichte Morphindosis sehr hoch war oder die Obduktion erst anderthalb Tage nach dem Tod erfolgt sei. Er regt an, die Rechtsmedizin in Münster mit einem Obergutachten zu beauftragen. Die erste Strafkammer unter Vorsitz von Uwe Tonndorf prüft nun die Anträge des Rechtsanwaltes. So ging der Fall weiter.

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