Berlin. Die NDR-Moderatorin bricht mit 18 Jahren aus ihrem gläubigen Elternhaus aus. In Paris kommt sie dann aus dem Küssen nicht mehr heraus.

Sie ist seit bald drei Jahrzehnten das Gesicht der NDR-Sendung „DAS“ und moderiert monatlich die „NDR Talkshow“. Nun geht Bettina Tietjen mit Ihrem neuen Buch „Früher war ich auch mal jung“ auf Zeitreise in ihre Tagebücher, die sie vom 14. bis zu ihrem 30. Lebensjahr geschrieben hat. Im Interview erzählt sie davon, was sie von ihrem jüngeren Ich heute noch lernen kann.

Hallo, Frau Tietjen, Sie haben ein Buch über Ihre alten Tagebücher geschrieben – warum sollten sich Ihre Leser und Leserinnen dafür interessieren?

Bettina Tietjen: Ich wollte keine klassische Autobiografie schreiben, so wie das viele Prominente in meinem Alter machen, aber hatte Lust, einen Blick zurück auf meine Jugend zu werfen, frei nach dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden“. Da kam mir die Idee mit den Tagebüchern, in die ich sehr lange nicht mehr hineingeschaut hatte. Meine Idee war, einen Dialog mit mir selbst zu führen und zu rekonstruieren, wie ich früher war und wie ich dorthin kam, wo ich heute bin.

Was war das für ein Moment, als Sie die Tagebücher erstmals wieder in den Händen hielten?

Tietjen: Überglücklich war ich. Ich habe fast geweint, weil ich eine wahnsinnige Angst hatte, dass die Tagebücher weg sein könnten. Mein Mann hatte mich auch noch geärgert und gesagt, dass er sie beim Renovieren vielleicht weggeworfen hat. Das wäre eine Katastrophe gewesen.

Bettina Tietjen war überglücklich, als sie ihre Tagebücher wieder in den Händen hielt. Von ihrem jüngeren Ich will sie sich so einiges abschauen.
Bettina Tietjen war überglücklich, als sie ihre Tagebücher wieder in den Händen hielt. Von ihrem jüngeren Ich will sie sich so einiges abschauen. © Sebastian Fuchs

Welche Träume und Wünsche der jungen Bettina bewegten Sie bei der ersten Lektüre besonders?

Tietjen: Die Liebe war das Wichtigste – die zog sich wie ein roter Faden hindurch. Außerdem hat mich sehr beschäftigt, was mal aus mir werden sollte. Was ich beruflich werden möchte, wusste ich lange Zeit nicht – das hat mir Kopfzerbrechen bereitet.

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Was konnten Sie noch von der jungen Bettina lernen?

Tietjen: Ein bisschen verrückt zu sein. Mal wieder etwas Verrücktes, Unvernünftiges machen und wieder spontaner sein – nicht so bequem im Leben verharren. Zum Beispiel spontan eine Kurzreise zu einem Konzert in London, Paris oder Barcelona buchen, sich ein Tattoo stechen lassen. Es sind viele Kleinigkeiten wie Nacktbaden mitten im Winter oder Paragliding – alles, was ich schon immer mal machen wollte.

Es gibt sicher auch Beispiele, bei denen Sie sagen: Bloß gut, dass ich älter und reifer geworden bin.

Tietjen: Ja. Natürlich. Der Leichtsinn, auf was wir uns, ich und eine Freundin, teilweise in Paris eingelassen haben, das war schon grenzwertig. Auch bei diesen vielen Ängsten von damals würde ich meinem Jüngeren Ich heute gerne zurufen: Ist gar nicht so schlimm. Das Leben hält für dich so viele schöne Überraschungen bereit. Und den richtigen Mann wirst du auch noch finden. Entspann dich mal!

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Wuppertal ist nicht unbedingt bekannt als „Vergnügungsmetropole“. Dennoch beschreiben Sie diese so?

Tietjen: Das ist natürlich ironisch gemeint. Wenn man jung und in der Pubertät ist, will man etwas erleben. Wir haben gelechzt nach außergewöhnlichen Ereignissen. Wenn Stadtfest oder eine Schulfete war, dann war das für uns ja schon ein Highlight.

Sie sind in einem streng gläubigem Elternhaus ausgewachsen. Hatten Sie damals das Gefühl ausbrechen zu müssen?

Tietjen: Natürlich. Ich habe mich gut mit meinen Eltern verstanden. Es war nicht so, dass ich ihnen weh tun wollte. Doch ich wollte schon Freiheit. Das habe ich geschafft, als ich nach Paris gegangen bin. Meine Eltern wussten nicht, was ich dort so trieb.

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Was war das Beengende in einem religiösen Elternhaus?

Tietjen: Wir durften nicht so oft auf Partys, auf Tanztees, nicht auf die Kirmes, ins Kino – es gab viele Dinge, die von der Gemeinde nicht gerne gesehen wurden, weil sie nicht den streng religiösen Regeln entsprachen. Wir hatten auch keinen Fernseher zu Hause.

Als Au-pair in Paris haben Sie 1978 die Weltmetropole in aller Freiheit entdecken können?

Tietjen: Meine Freundin Heike und ich haben die Kultur aufgesogen, waren in allen Museen, Ausstellungen, andauernd im Kino, um all die Filme zu sehen, die wir schon immer sehen wollten. Aber wir waren natürlich auch feiern. Vor allem wollten wir Jungs kennenlernen. Das war unser Hauptziel und hat gut funktioniert.

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Warum sprechen Sie in Ihrem Buch von „schwärzester Phallokratie“, was die Männer in Paris angeht?

Tietjen: Ich empfand die Männer dort als machomäßig. Die Franzosen und Südländer hatten damals ja noch diese klassischen Strukturen, bei denen der Mann entscheidet und die Frau sich anpasst. Wenn wir da mal auf einer Party jemand kennengelernt und herumgeknutscht haben, wollten wir nicht gleich mit dem ins Bett. Für uns war klar, dass so etwas nicht in Frage kommt. Das lag zum einen an der moralischen Prägung, war aber auch ein Stück Emanzipation, nach dem Motto: Nee, Jungs – bis dahin und nicht weiter. Das finde ich im Nachhinein sehr selbstbewusst für eine 18-Jährige.

Hat diese Zeit Sie selbstbewusster gegenüber der Männerwelt gemacht?

Tietjen: Das kann man so sagen. Später im Studium waren wir aber die Außenseiterinnen, weil wir uns einbildeten, die Welt gesehen zu haben und uns mit Männern auszukennen. Das haben wir auch so ausgestrahlt. Deshalb war es gar nicht so leicht, jemanden kennenzulernen.

Und nach Ihrem ersten Paris-Aufenthalt hat Ihnen keiner mehr etwas in der Kunst des Küssens vormachen können, oder?

Tietjen: Genau. Ich habe in meinem Tagebuch Listen geführt. Da habe ich die Jungsnamen hingeschrieben und Sternchen verteilt und nach den Kategorien „Küsst gut“ oder „Aussehen“ zwei, drei oder vier Sternchen verteilt.

Als 18-Jährige verteilte die NDR-Moderatorin Sternchen an ihre romantischen Bekanntschaften. Sie war schockiert, als sie das erste Mal auf einer LGBTQ-Party feierte.
Als 18-Jährige verteilte die NDR-Moderatorin Sternchen an ihre romantischen Bekanntschaften. Sie war schockiert, als sie das erste Mal auf einer LGBTQ-Party feierte. © Sebastian Fuchs

Warum waren Sie bei der Begegnung mit der LGBTQ-Community beim Besuch einer Pariser Diskothek im Jahr 1979 so schockiert?

Tietjen: Diesen Tagebucheintrag habe ich extra mit hineingenommen, weil es mir heute so peinlich ist, wie ich damals drauf war. Ich kannte keine Schwulen und Lesben – das war eine mir völlig fremde Welt. Bei mir zu Hause war das ein Tabuthema. In Paris hatte ich aber einen bisexuellen Freund, der mich in diese Clubs mitgenommen hat. Beim ersten Mal waren Heike und ich total schockiert: Männer in Frauenkleidern – ein Unding. Entsprechend empört habe ich mich auch im Tagebuch geäußert. Nach und nach wurde es aber selbstverständlich. Heute habe ich viele schwule Freunde und ich liebe es, mit Menschen zusammen zu sein, die nicht so festgefahren sind.

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Später, beim RIAS in Berlin absolvierten Sie das Volontariat. Berlin wurde zu „Ihrer“ Stadt.

Tietjen: Mir gefiel in Berlin dieses Brodelnde. Ich habe dort die ganze Wende und den Mauerfall miterlebt. Was bis heute geblieben ist, ist das Bunte, Laute und dieses Lässige. Solche Dinge wie Statussymbole, Geld, Klamotten, die in Hamburg und München eine Rolle spielen, sind in Berlin nicht so entscheidend.

In der spannenden Wendezeit 1989 rissen Sie die Seiten der letzten sechs Monate aus Ihrem Tagebuch heraus. Bedauern Sie das?

Tietjen: Ja, sicher. Vor allem wegen dieses Typen, der der Grund dafür gewesen ist. Weil ich unglücklich verliebt war, war ich wütend, enttäuscht, traurig und habe alles, was mich an diesen Mann erinnert hat, vernichtet. Heute hätte mich natürlich interessiert, wie ich die Wendezeit damals dokumentiert habe.

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Konnten Sie sich noch daran erinnern, dass Sie diese Seiten herausgerissen hatten?

Tietjen: Nein! Das hatte ich vergessen. Der Mann damals hatte mich betrogen und verlassen. Für mein Leben danach hat er keine Rolle mehr gespielt, im damaligen Moment aber schon.

Haben Sie sich auf der Suche nach der wahren Liebe damals zu sehr unter Druck gesetzt?

Tietjen: Ich glaube schon. Ich habe mich da sehr hineingesteigert, dass ich unbedingt den Richtigen finden muss. Und in dem Moment, als ich damit aufgehört und mich entspannt habe, fand ich ihn ja dann. 'Love comes when you least expect it' – das haben schon die Rolling Stones erkannt.

Anmerkung von der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels war davon die Rede, dass Bettina Tietjen in einem "streng katholischen Elternhaus" aufgewachsen ist. Das war eine falsche Angabe. Bettina Tietjen ist nicht katholisch. Sie und ihre Eltern waren in einer Freikirche.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.