Berlin. Die Impfpflicht ist gescheitert. Was das für die Bevölkerung bedeutet und warum wir im Herbst mit einer neuen Welle rechnen müssen.

Am Ende konnte auch Annalena Baerbock das Scheitern nicht abwenden. Die Außenministerin war von Kanzler Olaf Scholz (SPD) eigens vom Nato-Gipfel in Brüssel zurückbeordert worden, um im Bundestag an der Abstimmung zur Impfpflicht teilzunehmen. Denn um dem Wunschvorhaben von Teilen der Ampel zu einer Mehrheit zu verhelfen, wurde jede Stimme benötigt. Am Ende ist die allgemeine Impfpflicht am Donnerstag nach langer, heftiger Debatte und vielen Appellen dennoch gescheitert.

Der Kampf gegen die Pandemie wird in Deutschland somit auch künftig ohne dieses Instrument geführt. Der Kompromissvorschlag aus den Reihen der Ampel sah eine verpflichtende Covid-19-Immunisierung für ältere Menschen ab 60 Jahren vor. Das Scheitern ist eine politische Niederlage für die Ampelkoalition.

Abstimmung zur Impfpflicht: Niederlage für die Ampel-Koalition

Denn ihre Zerstrittenheit in der Corona-Politik zeigt sich nun überdeutlich: Während SPD und Grüne mehrheitlich dafür stimmten, votierte die Regierungspartei FDP fast geschlossen gegen die Impfpflicht, ebenso wie die Union als größte Oppositionsfraktion. Ärzteverbände warfen dem Bundestag vor, bei der Bekämpfung des Coronavirus versagt zu haben.

Wie hat der Bundestag abgestimmt?

296 Abgeordnete stimmten im Parlament für die Impfpflicht ab 60 Jahren, 378 votierten dagegen. Neun Parlamentarier enthielten sich. Der Entwurf war ein abgeschwächter Kompromiss gegenüber einer ursprünglich geplanten Impfpflicht für alle ab 18. Ziel der Einigung war es, möglichst viele Abgeordnete zur Zustimmung zu bewegen. Weiter sahen die Pläne für 18- bis 59-Jährige, die nicht geimpft sind, eine Beratungspflicht vor.

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Auch Anträge von Union, AfD sowie ein Antrag auf Initiative von FPD-Vize Wolfgang Kubicki fanden keine Mehrheit. Der Vorschlag von CDU und CSU für ein Impfvorsorgegesetz sah vor, dass erst je nach Lage im Herbst endgültig über eine Pflicht zur Immunisierung entschieden würde. Die Anträge von Kubicki sowie der AfD hatten sich grundsätzlich gegen eine Impfpflicht gewandt.

Wie verlief die Debatte im Bundestag?

Hitzig. Vor allem Lauterbach warb noch einmal sehr eindringlich für die Impfpflicht. „Heute ist der Tag der Entscheidung“, rief er vor allem der Union zu, „wir brauchen heute einmal ihre staatstragende Unterstützung, um im Herbst anders dazustehen“. Deutschland dürfe sich nicht daran gewöhnen, dass in der Pandemie „jeden Tag 200 bis 300 Menschen sterben“. FDP-Mann Kubicki bekräftigte indes seine Ablehnung.

Impfpflicht ab 60 scheitert im Bundestag
Impfpflicht ab 60 scheitert im Bundestag

„Wir hatten keine Überlastung des Gesundheitssystems und werden voraussichtlich auch keine bekommen“, argumentierte er. „Es ist nicht die Aufgabe des Staates, erwachsene Menschen gegen ihren Willen zum Selbstschutz zu zwingen“, betonte er. Ähnlich argumentierte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht: „Hören Sie auf, die Menschen zu bevormunden!“

Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) warf der Ampel vor, CDU und CSU bei der Impfpflicht nur als Mehrheitsbeschafferin benutzen zu wollen. Regierungschef Scholz meldet sich in der Bundestagsdebatte nicht zu Wort.

Was bedeutet der Tag politisch?

Für die Koalition als Ganzes ist es eine Niederlage, vor allem aber für die Befürworter der Impfpflicht in den Reihen der Regierungsfraktionen. Hierzu zählten auch Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD). Auch weite Teile der Grünen waren dafür. Die FDP-Spitze begründete dagegen in einer langen schriftlichen Erklärung ihr Nein. Eine Impfpflicht ließe sich „nicht ausreichend gut begründen“, heißt es darin.

Unterzeichner waren alle vier FDP-Bundesminister – Christian Lindner (Finanzen), Marco Buschmann (Justiz), Bettina Stark-Watzinger (Bildung), Volker Wissing (Verkehr) sowie Fraktionschef Christian Dürr. Der Riss in der Ampel ist damit offenkundig. Doch auch die Union steht als Verliererin da. Obwohl sie mehrheitlich für eine Impfpflicht war, ist sie keinen Kompromiss eingegangen und hat das Scheitern mitzuverantworten.

Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger?

In ihrem Alltag hat die Entscheidung zunächst kaum Auswirkungen. Eine Impfung gegen Covid-19 bleibt für die allermeisten Menschen hierzulande eine freiwillige Entscheidung. Eine Ausnahme gilt für das Personal in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen wie etwa Krankenhäuser, Arztpraxen und Pflegeheime. Für sie gilt weiterhin die sogenannte einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht. Sie trat Mitte März in Kraft. Auf die derzeitigen Corona-Lockerungen, die die Ampel kürzlich beschlossen hatte und die seit Anfang April bundesweit in Kraft sind, hat die Ablehnung der Impfpflicht ab 60 im Bundestag keine rechtlichen Auswirkungen.

Was sagen die Fachleute?

Ärztevertreter gehen davon aus, dass es ohne eine allgemeine Impfpflicht im Herbst und Winter zu einer erneuten Corona-Welle kommt. Treffen wird es demnach vor allem Ungeimpfte, die keinen Schutz gegen Covid-19 haben. Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger, Susanne Johna, verlangte stärkere Anstrengungen zur Steigerung der Impfquote. „Wir brauchen eine deutlich höhere Impfquote, gerade unter den Älteren, um für eine wahrscheinliche neue Infektionswelle im Herbst besser gewappnet zu sein“, sagte Johna unserer Redaktion.

Es sei „frustrierend“, dass mit der Entscheidung des Bundestags gegen eine Impfpflicht das Problem auf die Schultern derjenigen verlagert werde, die in der Patientenversorgung arbeiteten.

Der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, sagte, wenn im Herbst erneut eine ansteckende Variante komme, würden erneut Maßnahmen verhängt. „Am Ende wird die Pandemiebekämpfung wieder vor allem zulasten der Kinder gehen. Die Jüngsten werden erneut die Leidtragenden sein“, sagte Fischbach unserer Redaktion.

Zugleich äußerte er massive Kritik an den politisch Verantwortlichen: „Die Politik hat mit der Ablehnung der Impfpflicht fahrlässig gehandelt und gesellschaftlichen Schaden angerichtet“, sagte er. Die Entscheidung des Bundestags sei „Staatsversagen“. Fischbach betonte: „Die Ignoranz der Entscheidungsträger ist beschämend.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de