Mumbai. In der Corona-Misere in Indien ist die Zahl der Neuansteckungen zwar deutlich gesunken. Doch nun droht die „Delta-Plus“-Mutante.

Die zierliche Frau im bunten Sari macht sich Sorgen. „Ich schaue kein Fernsehen. Aber während ich als Haushälterin arbeite, höre ich die Nachrichten über die neue Corona-Variante”, sagt Seema Rahatwalkar aus der westindischen Metropole Mumbai. Die 45-Jährige redet über die Mutante „Delta Plus“. Die soll sich noch schneller und noch aggressiver ausbreiten als die Delta-Variante, die Indien bereits heftig erschüttert hatte.

Die beiden vergangenen Corona-Wellen, die über das Land hinwegfegten, hätten die 45-Jährige fast in den Ruin getrieben. Im April und im Mai war die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf mehr als 400.000 nach oben geschossen. Menschen fuhren mit ihren Covid-19-kranken Angehörigen vor die Krankenhäuser – doch es gab keine Beatmungsgeräte, das Gesundheitssystem stand vor dem Kollaps. Lesen Sie auch: Ganges spült Tausende Corona-Tote an

Wenn mit einer dritten Welle ein weiterer Lockdown käme, wäre das eine Katastrophe, warnt Seema. Ihr jüngster Sohn suche derzeit eine Stelle, ihr ältester macht einige Lieferjobs. „Es gibt kaum Arbeit. Ich weiß nicht, wann sich die Situation normalisieren wird“, meint Seema. Vor allem für den informellen Sektor – Straßenverkäufer oder Rikscha-Fahrer – ist es eine Herausforderung, zu überleben.

Die Regierung erhöhte zwar die Lebensmittelrationen für 800 Millionen Menschen über die Regenzeit hinweg. Aber das reicht nicht. Auf dem Land werden vermehrt Fälle bekannt, wonach minderjährige Mädchen verheiratet werden. Familien, die an finanzieller Not leiden, argumentieren, dass sie so ein Mitglied weniger durchfüttern müssen.

WHO stuft „Delta Plus“ als besorgniserregend ein

Noch ist die Zahl der „Delta-Plus“-Mutante begrenzt. Anfang der Woche waren gut 50 Fälle in zwölf Bundesstaaten bekannt. Aus dem zentralindischen Madhya Pradesh wurde berichtet, dass gegen Corona geimpfte Personen „Delta Plus” in häuslicher Quarantäne gut überstanden hätten. Allerdings starben zwei ungeimpfte Personen.

Bei einem Ausbruch im westindischen Ratnagiri waren ungeimpfte Kinder und Erwachsene betroffen. „Einige Kollegen haben sich zu Recht besorgt über ‚Delta Plus‘ geäußert, aber angesichts der bisher geringen Zahlen ist noch keine Angst zu erkennen“, sagt der Gesundheitsforscher Anant Bhan. Doch die indischen Behörden wie auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuften „Delta Plus“ als „besorgniserregend“ ein.

Schlange für Corona-Test: Passagiere auf dem Bahnhof von Mumbai warten auf den Nasenabstrich.
Schlange für Corona-Test: Passagiere auf dem Bahnhof von Mumbai warten auf den Nasenabstrich. © AFP | SUJIT JAISWAL

Mittlerweile ist die Zahl der täglichen Neuansteckungen in Indien auf unter 50.000 gesunken. Seitdem Premierminister Narendra Modi der Bevölkerung kostenlose Impfungen versprach, läuft die Immunisierung langsam an. Mehr zum Thema: So gefährlich ist die Impflücke für Europa

Auch Seema ließ sich kürzlich eine Spritze verpassen. „Ich war zunächst skeptisch. Aber so viele Menschen gingen schon vor mir zum Impfen, und meine Arbeitgeber haben sich auch danach erkundigt”, meint sie. Dennoch bleibt Indiens Impfrate im internationalen Vergleich niedrig. Derzeit haben nur 19,5 Prozent der Bevölkerung (267 Millionen) die erste Impfdosis behalten und gut vier Prozent (57 Millionen) die zweite.

In der Region Mumbai haben sich bereits 80 Prozent infiziert

Warum angesichts dieser eher bescheidenen Quote die Zahl der täglichen Neuinfektionen drastisch gesunken ist, ist für viele Medizinexperten ein Rätsel. Einige verfechten die These, das mehr als zwei Drittel der indischen Bevölkerung bereits durchseucht sei, also eine Art Herdenimmunität vorliege.

Die Forschungseinrichtung Tata Institute of Fundamental Research (TIFR) schätzt, dass sich in Metropolregionen wie Mumbai bereits 80 Prozent der Menschen angesteckt haben und nach der Genesung immun sind.

Trotzdem bezweifeln viele Fachleute, dass dies ausreichenden Schutz gegen “Delta Plus“ bietet. An Warnungen fehlt es nicht. „Wir dürfen dieses Virus nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir müssen verstehen, dass sich dieses Virus verändert. Es verändert sich, um zu überleben“, mahnt Randeep Guleria, Corona-Experte und Direktor des renommierten All India Institute of Medical Sciences (AIIMS). Andernfalls könne es erneut zu einem schnelleren Anstieg der Coronafälle kommen.