Berlin. RKI-Chef Wieler und Karl Lauterbach geraten in der Corona-Bekämpfung plötzlich aneinander. Das wird sich rächen, glaubt Miguel Sanches.

Reden wir über Weihnachten. Rein epidemiologisch. Für Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind die Festtage kein Treiber der Pandemie. Für RKI-Präsident Lothar Wieler ist es bloß eine Zeit trügerischer Sicherheit, da weniger zum Arzt gegangen und getestet wird. Er wirbt für Isolierung – die Politik verfährt jedoch nach der Devise „Warum heute einen Lockdown besorgen, wenn man ihn auch auf morgen verschieben kann?“.

Damit liegt ein Dissens offen, der Analyse, Konsequenzen und nicht zuletzt das Rollenverständnis betrifft. Während das RKI selbstbewusst und eigenständig an die Öffentlichkeit geht, sieht der Minister in der Behörde eine wissenschaftliche Beraterin, die sich mit dem Ministerium optimiert (Lauterbach) abstimmen soll. Kurzum: besser. Lesen Sie dazu: Karl Lauterbach: Vom Corona-Mahner zum FDP-Moderator

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Da ist ein Konflikt, der früher oder später gelöst werden muss, vermutlich zulasten des RKI-Chefs; und politisch unbeeindruckt davon, dass die Realität Wieler abermals bestätigen könnte. Gut möglich, dass Bund und Länder im Januar die Tatenlosigkeit zu Weihnachten bereuen und sich wünschen werden, sie wären dem RKI-Präsidenten gefolgt.

Sagen, was ist, war mal Lauterbachs Paradedisziplin. Als Minister gewährt er Wieler nicht die Freiheiten, die er sich als Abgeordneter selbstredend nahm und mit denen er oft genug aneckte.

RKI und Gesundheitsministerium: Unterkühlte Beziehung?

Ob er von vornherein Lauterbach zum Gesundheitsminister machen wollte, kann nur Olaf Scholz beantworten. Aber offensichtlich ist, was der Kanzler mit dem Experten gemacht hat: ihn eingebunden, in die Kabinettsdisziplin genommen. Der alte Lauterbach hätte unverhohlen seine Ungeduld zur Schau getragen, er hätte angesichts der Omikron-Variante nach schärferen Corona-Auflagen gerufen. Der Amts-Lauterbach muss viel mehr ins Kalkül ziehen als nur die „Sache“: den Kanzler, den Koalitionsfrieden, das politische Timing, das Kräftemessen zwischen den Parteien und zwischen Bund und Ländern, die öffentliche Meinung, die Wähler. Politik ist nicht allein ein Wettstreit um die besseren Argumente, sondern um Mehrheiten.

Beim Navigieren aus der Pandemie sollte man besser einen Leuchtturm nicht übersehen: die Fachbehörde. Zwischen RKI und dem Dienstherrn bestand immer ein Spannungsverhältnis. Wieler wurde mal gefragt, ob er Jens Spahn vermissen werde. Man wisse ja erst, was man vermisse, „wenn man es nicht mehr hat“, rief er dem CDU-Mann hinterher. Die unterkühlte Antwort galt nur zur Hälfte dem scheidenden Minister – da schwang schon eine Vorahnung der Konflikte mit, die sich jetzt einstellen. Auch interessant: Corona-Alarm: So reagieren andere Länder auf Omikron

Wieler nahm in Kauf, Minister und Kanzler zu brüskieren

Aufmerksame Leser der Stellungnahme des Expertenrates der Bundesregierung hatten sich gewundert. Der Analyseteil zur neuen Lage mit Omikron war messerscharf und maximal alarmierend. Bei den Folgen und Forderungen aber blieben die 19 Experten vage. Man ahnt jetzt, dass das 19-zu-0-Votum unehrlich war. Denn einer in der Runde wollte viel mehr: schärfere Maßnahmen, quasi einen Lockdown, und zwar sofort. Und das war Lothar Wieler. Weil er sich im Kreis der Experten nicht durchsetzen konnte oder ihn nicht sprengen wollte, verzichtete er auf ein Minderheitenvotum, aber ging an die Öffentlichkeit. Er nahm in Kauf, Minister und Kanzler zu brüskieren. Wieler machte sich für Maßnahmen stark, von der das RKI überzeugt war, die Lauterbach aber gerade erst politisch ausgeschlossen hatte. Lesen Sie auch: Neue Studie zu Omikron: Doch mildere Verläufe bei Variante?

Das gespaltene Votum – in der Öffentlichkeit und im Expertenrat – irritiert, weil Lauterbachs Autorität beschädigt wird und sich Wielers weiteres Schicksal auf tragische Weise abzeichnet: als Kassandra in der Pandemie – jene Figur der griechischen Mythologie, die dazu verdammt war, stets das Unheil vorauszusehen, aber kein Gehör zu finden.