Berlin. Rekorde bei den Corona-Neuinfektionen: Die Gesundheitsämter stehen am Rand der Überforderung. Droht Deutschland ein zweiter Lockdown?

  • Am Mittwoch kommt Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammen, um über neue Maßnahmen im Kampf gegen Corona zu sprechen
  • Die Ämter stoßen bei der Kontaktverfolgung inzwischen an ihre Grenzen – Politiker warnen vor einem Kontrollverlust
  • Auch ein neuer Lockdown scheint nicht mehr ausgeschlossen: Ein komplettes Herunterfahren des öffentlichen Lebens soll aber verhindert werden, wie es heißt

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigt weiter massiv an. Die Politik ist alarmiert, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht „sehr, sehr schwere Monate“ bevorstehen – und bei den Bürgerinnen und Bürgern wächst die Angst vor einem landesweiten Lockdown, wie er im März verhängt wurde.

Am Mittwoch kommt Bundeskanzlerin Merkel erneut mit den Länderchefs und -chefinnen zusammen, um die Corona-Regeln für die kommenden Wochen zu beraten. Laut einem Bericht der „Bild“ steht dabei auch eine Art „Lockdown light“ zur Debatte. Zuletzt hatte sich Merkel nur bedingt zufrieden mit den Maßnahmen in einzelnen Bundesländern gezeigt. Lesen Sie hier mehr zum Thema: Lockdown? Was Merkel und die Länder am Mittwoch diskutieren

Söder will keinen kompletten Lockdown

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will keinen kompletten zweiten Lockdown wie im Frühjahr. Höchste Priorität habe für ihn, Schulen und Kitas möglichst lange offen zu halten, sagte Söder am Dienstag nach einer Sitzung seines Kabinetts in München. „Für mich ist klar, die Schulen und Kitas werden als letztes geschlossen, Schulen und Kitas werden als erstes geöffnet.“ Lesen Sie hier mehr: Lockdown ab 4. November? Diese drastischen Corona-Regeln will Merkel.

Söder maß den Beratungen der Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch erneut große Bedeutung bei. „Wir müssen uns morgen bewähren“, sagte er. Es gehe darum, nun geschlossen die richtigen Beschlüsse zu fassen - „lieber mit einer wirksamen Therapie als mit reinen Placebos“.

Jedem müsse nun klar sein, dass der größte Schaden für die Wirtschaft eine verschleppte Situation sei. „Verzögern wird nicht helfen, Verschleppen verschlimmert.“ Deshalb gelte für die morgigen Beschlüsse: „Lieber schneller und konsequent als verzögert und verlängert.“

Wie schnell strikte Maßnahmen wieder Realität werden können, beweisen zwei bayerische Landkreise. Nachdem das öffentliche Leben in der vergangenen Woche in Berchtesgaden massiv heruntergefahren wurde, kommt es nun in der nächsten Region zu einem faktischen Lockdown: Ab Dienstag werden im niederbayerischen Landkreis Rottal-Inn nicht nur Schulen und Kitas geschlossen, sondern auch alle Veranstaltungen abgesagt, wie das Landratsamt am Montag in Pfarrkirchen mitteilte.

Rottal-Inn: Verlassen der Wohnung nur mit triftigem Grund

Bei den beschlossenen Maßnahmen handle es sich um ähnliche wie im Berchtesgadener Land, wo ebenfalls Kitas und Schulen ihre Tore geschlossen haben. Wollen die Einwohner ihre Wohnung verlassen, benötigen sie dafür zudem einen triftigen Grund.

Zuvor sollte der Lockdown in Rottal-Inn mit aller Kraft verhindert werden: Am Sonntag hatte Landrat Michael Fahnmüller (CSU) noch erklärt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um strikte Maßnahmen zu verhindern.

Die beiden bayerischen Kreise sind die Landkreise mit dem deutschlandweit höchsten Infektionsgeschehen: In Rottal-Inn gab es laut Robert-Koch-Institut zuletzt 260,1 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Damit liegt die Sieben-Tage-Inzidenz sogar noch über dem Landkreis Berchtesgaden mit 237 Neuinfektionen.

Die Angst vor dem zweiten Lockdown wächst

Folgen bald weitere Regionen den Beispielen von Berchtesgaden und Rottal-Inn? Bereits jetzt ächzen die Gesundheitsämter bei der Rückverfolgung von Ansteckungsketten. Vielerorts gibt es Personalengpässe.

Das gilt auch für die Ordnungsämter, die Verstöße gegen Maskenvorschriften und Quarantäneauflagen kontrollieren sollen. Hilfe kommt zwar von Bundeswehr und Polizei. Dennoch schwindet vielerorts die Bereitschaft der Bürger, sich an die Corona-Regeln zu halten. Auch die Warn-App erweist sich nach Ansicht von Kritikern kaum als nützlich.

Corona in Deutschland: Wie ist die Infektionslage?

Nach Angaben des RKI wurden am Dienstag 11.409 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Am Dienstag vor einer Woche hatte die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden bei 6868 gelegen.

Der bislang höchste Wert seit Beginn der Pandemie wurde am vergangenen Samstag erreicht: An dem Tag wurden mehr als 14.700 Infektionen gemeldet. Die Gesamtzahl der erfassten Covid-19-Fälle in Deutschland beträgt nun 449.275 (Stand 27. Oktober). Die Reproduktionszahl liegt bei 1,37 (Stand: 26. Oktober).

Derweil sind weitere Menschen mit oder an dem Coronavirus gestorben. Insgesamt zählt das RKI in Deutschland nun 10.089 Corona-Tote.

Wo stecken sich die Menschen an?

Seit dem Sommer haben sich vor allem private Haushalte, Büros und Freizeitaktivitäten zu Infektionsherden entwickelt. Mittlerweile steckt sich nur noch ein marginaler Teil von drei Prozent der Infizierten im Ausland an. Stattdessen häufen sich Corona-Ausbrüche, die mit Feiern im privaten Umfeld, aber auch in Betrieben in Zusammenhang stehen. Vermehrt kommt es auch wieder zu Fällen in Alten- und Pflegeheimen.

Allerdings lassen sich Infektionen vielerorts nicht mehr auf einzelne Ereignisse zurückführen. Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) etwa sagt, bei rund 90 Prozent der Neuinfektionen in der Hauptstadt sei die Quelle nicht mehr eindeutig festzustellen.

Die Tabelle zeigt, wo sich in Deutschland die Menschen mit dem Coronavirus infizieren.
Die Tabelle zeigt, wo sich in Deutschland die Menschen mit dem Coronavirus infizieren. © funkegrafik nrw | Denise Ohms

Wie ist Lage in den Gesundheitsbehörden?

„Grundsätzlich angespannt“, sagte Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, unserer Redaktion. Die Mitarbeiter seien „am Limit“. Teichert betont: „Als die Bundeskanzlerin vor einigen Wochen von 19.200 Neuinfektionen an einem Tag gesprochen hat, habe ich eine solche Entwicklung zunächst für unwahrscheinlich gehalten. Aber so wie die Dinge derzeit verlaufen, halte ich das inzwischen für eine realistische Einschätzung.“

Besonders problematisch sei es für die Behörden, wenn in einer Region innerhalb kurzer Zeit die Infektionszahlen stark ansteigen. „Da geraten die Ämter rasch an die Grenze der Überforderung“, besonders Regionen mit sehr vielen Ansteckungen könnten nicht mehr alle Kontakte nachverfolgen. Die Beteiligung der Bundeswehr an der Nachverfolgung der Infektionsketten helfe daher sehr.

Corona-Studie- Frauen nehmen Coronavirus ernster

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    Stößt die Corona-Warn-App an ihre Grenzen?

    Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bezeichnete die App jüngst als „zahnlosen Tiger“, Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhard beklagte, dass derzeit lediglich 60 Prozent der infizierten Nutzer ihre positiven Test-Ergebnisse in die App eintragen würden. Aktuell werden mehr als 500 neue positive Tests pro Tag über die App geteilt. Das entspricht allerdings weniger als zehn Prozent aller Neuinfektionen.

    Inwiefern die App die Kontaktverfolgung tatsächlich unterstützt, ist daher fraglich. Das liegt nicht nur an der App selbst. „Wenn die Mehrheit telefonisch über ein positives Testergebnis informiert werden muss, scheint es stark auf Seiten der Labore und Testzentren zu hapern“, sagt Frank Sitta, Bundestagsfraktionsvize der FDP.

    Etwa 20 Prozent der Testlabore sind nicht an den digitalen Verifikationsserver der Corona-Warn-App angebunden. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage Sittas hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Doch selbst bei Laboren, die digital vernetzt sind, kommt es immer wieder zu technischen Schwierigkeiten, beispielsweise wenn Codes auf den Formularen unleserlich oder gar nicht abgedruckt werden. Lesen Sie hier: RKI-Chef Wieler zu Corona-Trend – „Noch haben wir eine Chance“

    Steht ein bundesweiter Lockdown bevor?

    Nach Ansicht von Spahn – vor seinem positiven Corona-Test – wird es in dieser Situation nicht wie im Frühjahr zu einem großflächigen Stillstand in Deutschland kommen. „Einen zweiten Lockdown, so wie er immer gemeint wird, den sehe ich nicht“, hatte Spahn gesagt.

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    Spahn hatte betont, aktuell sehe man in Berchtesgaden, dass regional bei besonders vielen Infektionen alles „mal wieder zwei oder drei Wochen“ heruntergefahren werde, um es in den Griff zu bekommen. Aber so eine Situation wie im März/April sehe er nicht.

    (diz/bml/ape/dpa/raer)