Berlin. Verzerrt die Hospitalisierungsrate das Corona-Lagebild? Kritiker beklagen Undifferenziertheit, einen Graubereich und “Zufallsbefunde“.

Politiker wie Janosch Dahmen von den Grünen warnen vor Lockerungen der Corona-Auflagen. Er begründet das mit der Hospitalisierungsrate. Selten war sie so wichtig wie heute, doch die Kritik an ihr nimmt gerade jetzt deutlich zu.

Denn was taugt eine Statistik, die nicht zwischen Behandlungs- und Aufnahmegrund, Erst- und Zweitdiagnose unterscheidet? Das ist bei der Hospitalisierungsrate der Fall und führt dazu, dass Menschen, die wegen einer anderen Erkrankung in einee Klinik aufgenommen werden und "zufällig" auch mit Corona infiziert sind, trotzdem in der Statistik als Covid-Hospitalisierung gezählt werden. "Wir benötigen dringend einen guten Überblick, aus welchem Grund die Menschen stationär aufgenommen oder auf der Intensivstation landen", sagte der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann in Bezug darauf unserer Redaktion.

Verzerrte Corona-Statistik: Die Krux mit den Zufallsbefunden

"Auf den Normalstationen wird es sicherlich auch mehr Zufallsbefunde geben, das heißt: positive Tests bei Menschen, die wegen anderer Erkrankungen ins Krankenhaus gekommen sind", erklärte Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, unserer Redaktion.

Diese Zufallsbefunde werden für den Berliner Virologen Christian Drosten "erstmalig relevant", schreibt er in einer Stellungnahme. Sie müssten in die Bewertung des Lagebildes einfließen. Ein Erkenntnisgewinn. Einerseits.

Andererseits tragen diese Befunde dazu bei, dass die Hospitalisierungsrate derzeit steigt. Indes verbergen sich dahinter oft Patienten, die gar nicht wegen Corona im Krankenhaus sind.

Krankenhäuser: Keine validen Schätzungen

Es lägen "keine validen Schätzungen" vor, die eine Differenzierung der Datenlage nach "mit" und "wegen" Corona Hospitalisierter zuließen, so der Vorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. Für das Krankenhaus selber sei es völlig unerheblich, aus welchen Gründen ein Infizierter dort sei. "Der Arbeitsaufwand ist in beiden Fällen immens und gleich." Allein, für die Politik ist die Hospitalisierungsrate als Argumentationshilfe entscheidend.

Rückblick: Fast zwei Jahre lang war die Inzidenz der Maßstab: Die Zahl der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 in sieben Tagen auf 100.000 Einwohner. Aber über die Belastung des Gesundheitssystems sagten die Inzidenzen im Laufe der Zeit immer weniger aus,

  1. weil die Zahl der geimpften Personen sukzessive gestiegen ist, die damit besser vor schweren Krankheitsverläufen geschützt sind;
  2. weil in der Omikron-Welle überwiegend milde Verläufe gemeldet werden;
  3. weil die Labore überlastet sind und bei den PCR-Tests priorisieren müssen, sodass nicht mehr jeder positive Fall erfasst wird.

Hospitalisierungsrate: Kliniken beklagen einen Graubereich

Mitte November 2021 rückte für Bund und Länder die Hospitalisierungsrate als zusätzliches Kriterium in den Vordergrund: Die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner in sieben Tagen.

Früh wurde kritisiert, dass die Daten verzögert gemeldet und Patienten nicht erfasst werden, die aus einem anderen Grund ins Krankenhaus mussten. Dieses Argument wiegt in der grassierenden Omikronwelle umso schwerer, als die Variante hochansteckend ist: Das Risiko, sich zu infizieren, war noch nie so groß, auch und gerade in einer Klinik.

Stutzig macht beispielsweise die Auskunft des Universitätsklinikums Regensburg: Von den 35 Patienten, die im Januar dort auf der Covid-Allgemeinstation aufgenommen wurden, gingen nur 14 Fälle primär auf eine Corona-Infektion zurück.

RKI: Daten zu Krankenhausaufnahmen nur unvollständig

Die Menschen kommen aus anderen Gründen ins Krankenhaus, ihre Fälle fließen aber in die Corona-Hospitalisierungsrate ein, die politisch längst zum Warnwert geworden ist. Es gilt ein Drei Stufen-Modell: Werte von 3,0 - 6,0 und 9,0. Ab dem ersten Wert gilt flächendeckend 2G, ab dem zweiten Wert in Teilbereichen auch 2G-Plus, ab dem dritten Wert sind weitergehende Maßnahmen wie etwa Kontaktbeschränkungen möglich.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt den Krankenhäusern vor, alle corona-positiven Patienten zu melden, bei denen ein Zusammenhang zwischen Infektion und individueller Erkrankung nicht offensichtlich ausgeschlossen werden könne. "Ein gebrochenes Bein ist dabei zum Beispiel ausgeschlossen", stellt Gaß klar.

Und doch gebe es "einen relativ großen Graubereich", wo der Zusammenhang zwischen Infektion und Erkrankung nicht ausgeschlossen, eben aber auch nicht bewiesen sei, so Gaß weiter. "Die Bewertung des Grunds der Hospitalisierung ist in den Gesundheitsämtern schwierig", bestätigt das RKI auf Anfrage. In vielen Fällen könne die Ursache "nicht immer eindeutig ermittelt werden".

FDP fordert bessere Erfassung von Covid-Patienten

Zudem seien die Gesundheitsämter angesichts der hohen Fallzahlen sehr stark belastet, "und die Daten können daher nur unvollständig erhoben und übermittelt werden. Eine bundesweite Auswertung ist derzeit daher nicht belastbar", räumt das RKI ein.

In der Praxis behilft sich das RKI mit zusätzlichen Indikatoren. Um die Rate "besser bewerten zu können", ergänze das Institut die berichtete Hospitalisierungsinzidenz "um eine Schätzung der zu erwartenden Anzahl an verzögert berichteten Hospitalisierungen".

Damit ist das Problem der verspäteten Meldungen entschärft, nicht jedoch die Verzerrungen mangels Differenzierung. "Natürlich muss man die Datenerfassung stetig verbessern", fordert Gesundheitspolitiker Ullmann.

FDP-Politiker Andrew Ullmann bei einer Rede im Bundestag.
FDP-Politiker Andrew Ullmann bei einer Rede im Bundestag. © Christoph Hardt/Geisler-Fotopres

DKG-Chef Gaß plädiert für eine Differenzierung der Daten, um zu erkennen, ob die Infektionen zu schwerwiegenden Verläufen mit Hospitalisierung führen. Die Gesamtzahl der in den Kliniken einliegenden Patienten mit positivem Testbefund könne man "sehr genau über die Aufnahmediagnostik erfassen".

Lauterbach: Spielt in der Praxis keine Rolle

Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spielt die Unterscheidung in der Praxis oft keine Rolle. Komme zu schweren Erkrankungen Covid dazu, sei die Prognose für Patienten schließlich deutlich schlechter. Dennoch stellte er in Aussicht, die fehlende Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebendiagnose zu beenden.