Berlin. Mediziner befürchten einen brisanten Engpass bei der Versorgung von Patienten vor allem auf Intensivstationen. Was gilt im Ausnahmefall?

Chefarzt Uwe Janssens wirft sich mit Worten vor seine Leute. „Keiner von uns will in diese Situation kommen“, sagt Janssens. Er leitet die Intensivstation im Klinikum in Eschweiler. „Das ist furchtbar und eine enorme Belastung.“ Es müsse alles getan werden, das zu verhindern.

Was Janssens mit „das“ meint, ist eine extreme Situation, vor der im Moment viele Fachleute Sorge haben: Die Corona-Lage verschärft sich so stark, dass die Zahl der überlebenswichtigen Betten auf Intensivstationen in Kliniken nicht mehr ausreicht. Wenn einzelne Regionen, ganz Deutschland und auch die Nachbarstaaten so stark am Limit ihrer Krankenhaus-Kapazitäten sind, dass ein Patient auch nicht mehr verlegt werden kann. Wenn Ärzte entscheiden müssen, welchen Menschen sie „priorisieren“, sprich: Wer intensiv behandelt wird und wer nicht – weil in der Notaufnahme drei Patienten mit dem Tod ringen, aber nur noch zwei Betten mit Beatmungsgeräten da sind.

Das ist ein brisantes Szenario. Nicht nur medizinisch, denn es ist oft nicht einfach, die Heilungschancen eines Menschen mit der einer anderen Person zu vergleichen. Aber auch ethisch und rechtlich ist umstritten, wie und ob überhaupt Menschenleben gegeneinander abgewogen werden können und sollen.

Triage: Krankenhäuser bereiten sich auf Ausnahmezustand vor

Der Begriff für diesen Ausnahmezustand, der die corona-gestresste Öffentlichkeit bis ins Mark trifft, lautet: Triage. Das Wort kommt ursprünglich vom Militär. Sind auf einem Schlachtfeld mehr Menschen verletzt als Betten in Lazaretten frei sind, müssen die Ärzte vor Ort Menschen in Gruppen „sortieren“. Wer wird zuerst behandelt, wer später. Ziel ist: So viele Personen mit so geringem Schaden wie möglich zu retten.

Fachleute wie Janssens, der auch Leiter der Arbeitsgruppe Ethik bei der Vereinigung der Intensiv- und Notfallmediziner (DIVI) ist, wehrt sich gegen diesen Begriff angesichts der Lage. Es herrsche kein Krieg – und anders etwa als bei schweren Zugunglücken mit Hunderten schwer Verletzten innerhalb von Augenblicken, sei jetzt Zeit zum Planen. Corona-Lagen seien berechenbar. Mediziner wissen, was sie in einigen Wochen erwarten können auf ihren Intensivstationen. Das aber wiederum beruhigt Menschen wie Janssens angesichts der dramatisch steigenden Zahl neu Infizierter nicht.

Die Warnungen sind deutlich: Chefarzt Janssens sagt, dass es „jetzt zunehmend eine realistische Befürchtung“ sei, dass die Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern entscheiden müssen, wer intensivmedizinisch behandelt werde und wer nicht. Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte unserer Redaktion: „Wir alle bereiten uns auf eine Triage vor.“ Auch interessant: Weltärztebund-Chef: Corona-Variante "wie Ebola" möglich

Wie bewertet man Patienten im Rahmen einer Triage?

Die Vereinigung der Intensivmediziner hat Leitlinien erarbeitet, an denen sich Kliniken und Ärzte orientieren können. Der Tenor ist: Die Priorisierung von Patienten sollte sich an der jeweiligen „klinischen Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung orientieren“. Wer also bessere Chancen hat, gesund zu werden, soll den Platz im Intensivbett bekommen.

Was bedeutet das in der Notaufnahme einer Klinik? Ein Team, geführt von einer Ärztin oder einem Arzt, muss neue Patienten danach begutachten, wie gut die Heilungschancen sind. Dabei zählt laut Georg Mackmann vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin in München zunächst, wie schwer die Erkrankung bereits fortgeschritten ist. Relevant seien jedoch auch Vorerkrankungen wie frühere Herzinfarkte, schlechte Funktion der Niere. Alter spiele auch eine Rolle, oft ist das ein wichtiger Faktor für die Erfolgsaussichten einer Therapie. Aber, heben Mediziner der DIVI hervor, ein an Corona erkrankter junger Mensch mit Vorerkrankungen könne schlechtere Aussichten auf Genesung haben als ein älterer Covid-Patient, der sonst fit ist.

Zudem gilt: Corona-Patienten sollen nicht prinzipiell vor anderen bevorzugt werden. Denn wer lange auf eine Krebsoperation warten muss, für den kann die Lage auch lebensgefährlich werden – etwa wenn der Tumor streut.

Auch Ungeimpfte sollen nicht benachteiligt werden

Gilt das auch für Ungeimpfte? Ja, heben Intensivmediziner hervor. Auch Robert Ranisch, Medizinethiker an der Universität Potsdam, könne das Reizthema, ob Geimpfte bei einer Triage priorisiert werden sollten, „gut nachvollziehen“. Zugleich sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion: „Bei Triage-Entscheidungen geht es aber um die Rettung möglichst vieler Menschenleben, nicht um Schuld oder Bestrafung.“ Die Behandlung von Kranken sei Aufgabe der Heilberufe, ungeachtet der politischen Einstellungen der Patienten.

Klar ist aber auch: Wer nicht bevorzugt behandelt wird, landet deshalb nicht auf der Straße oder unbeachtet auf dem Klinik-Flur. Das heben alle Mediziner hervor. Wer nicht gleich auf die Intensivstation kommt, wird auf andere Stationen verlegt – und so gut es geht dort behandelt. Der Patient wird, wenn möglich, stabilisiert, bekommt Mittel gegen Schmerzen.

Klinikverbände und Mediziner heben hervor, dass derzeit mit verschiedenen Strategien gegen einen Corona-Kollaps gekämpft wird. Weniger dringende Operationen werden verschoben, das schafft Kapazitäten für Covid-Fälle. Ist in einer Klinik kein Bett frei, kann ein Patient verlegt werden. Seit einigen Tagen werden Corona-Kranke etwa von Bayern und Thüringen nach Norddeutschland geflogen. Ist auch da die Lage brisant, haben Staaten wie Italien bereits Angeboten, Menschen in ihren Krankenhäusern aufzunehmen. Das kann zumindest in einigen Fällen helfen.

Die Triage ist auch strafrechtlich umstritten

Wen ein Arzt wie schnell behandelt, bleibt immer eine Entscheidung im Einzelfall. Eine heikle und belastende – für den Arzt, den Patienten, die Angehörigen. Auch eine gerechte Entscheidung? Strafrechtsprofessor Thomas Rönnau weist auf die Risiken einer „Priorisierung“ von Patienten durch den Arzt im Notfall hin, denn strafrechtlich sei der Umgang mit der Triage ebenso umstritten wie ethisch. Rönnau schließe sich der herrschenden Rechtsmeinung an. Es gelte das Prinzip: „Wer die Rettungschance hat, der hat sie.“ Lesen Sie auch: Omikron: Das ist über die neue Corona-Variante bekannt

Ein Patient, der einen der letzten Plätze auf einer Intensivstation bekommen habe, dürfe nicht zugunsten eines neu ankommenden Patienten aktiv von den lebenswichtigen Geräten abgeschaltet werden, sagt Rönnau. „Der Zufall, der hier auch eine Rolle spielt, ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht unerträglich, sondern spielt letztlich immer eine Rolle.“

Rönnau von der Bucerius Law School in Hamburg hebt hervor: „Menschenleben dürfen in der Qualität nicht miteinander verglichen werden, grundsätzlich auch nicht mit Blick auf die besseren Überlebenschancen.“

Ihm fehle auch die Fantasie, wie das in einer extremen Notlage in einer Klinik funktionieren solle. „Die Ärzte und Pflegekräfte wären auf Basis unsicherer Behandlungsprognosen permanent damit befasst zu gewichten, ob sie einen Platz für einen neu eintreffenden schwer kranken Menschen freimachen müssen oder nicht. Das führt zu einer andauernden Bewertung von Menschenleben.“

Janssens: Politik muss Maßnahmen gegen Neuinfektionen ergreifen

Juristisch umstritten, ethisch brisant, mental belastend – es ist klar, dass Kliniken derzeit alles tun, um eine Priorisierung von Patienten zu verhindern. Neben Warnungen gibt es auch Signale aus den Kliniken, die Mut machen. In den Helios-Kliniken sei man „weit von einer Triage entfernt“, wie es aus Unternehmens-Kreisen heißt. Das gelte für alle 89 Krankenhäuser, die der Konzern in Deutschland betreibt.

Chefarzt Janssens fordert die Politik auf, alle Maßnahmen zu ergreifen, damit sich nicht mehr täglich Zehntausende neu mit Corona anstecken. „Wir können uns kein Abwarten leisten.“ Man wisse nun auf den Intensivstationen, was kommen könne. Auch im Extremfall – die Triage. Janssens sagt: „Wenn es soweit kommt, wir sind gewappnet. Und können das auf unseren Schultern tragen.“