Berlin. Seit mehr als zwei Jahren tragen wir Mund-Nasen-Schutz. Hat die Corona-Regel das Immunsystem von Kindern und Erwachsenen geschwächt?

Noch immer infizieren sich mehr als 40.000 Menschen pro Tag mit Corona, die Grippewelle ist früh gestartet und RS-Viren sorgen für Tausende kranke Kinder. Einige Politiker wie der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Andrew Ullmann, fordern bereits, aus Solidarität mit Kindern, Eltern und Klinikpersonal wieder auf Abstand zu gehen und in Innenräumen konsequent eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.

Doch andere stellen eine Gegenbehauptung auf: Erst durch das monatelange Tragen der Masken sei unser Immunsystem so schwach geworden, so die Behauptung. Stimmt das?

Maskentragen: Diskussion über Notwendigkeit

Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 herrschte Unsicherheit: Sollen wirklich so viele Menschen wie möglich eine Maske tragen, um die Verbreitung des damals noch neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 einzudämmen? Was in den Jahren 2002 bis 2004 in Ländern half, die von Sars-1 betroffen waren – etwa in Taiwan oder China – würde hierzulande wahrscheinlich wenig bringen, wie einige Experten damals erklärten.

Doch dann kam die Kehrtwende. Spätestens ab Sommer 2020 gab es kaum noch Virologen oder Mediziner, die das Maskentragen für überflüssig hielten. Es folgten zahlreiche wissenschaftliche Studien, die diese Auffassung bestätigten: Masken schützen wirklich. Zumindest dann, wenn sie richtig getragen werden.

"Inzwischen wissen wir, dass Maßnahmen wie Abstand halten und Maske tragen gegen Corona oder die Grippe wirksam sind und zum Begrenzen von Infektionen im Allgemeinen beitragen können", sagt Ralf Dürrwald, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Influenza am Robert Koch-Institut (RKI). Wer also dazu beitragen wolle, die Infektionswellen abzuflachen, könne für den eigenen Schutz und den Schutz Anderer darauf zurückgreifen.

"Eine vernünftig sitzende FFP2-Maske verringert die Wahrscheinlichkeit, sich mit einer Reihe von Atemwegserkrankungen zu infizieren", sagt auch Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. "Aus medizinischer Sicht kann es daher gerade für vulnerable Gruppen Sinn ergeben, sich auch in diesem Winter in Innenräumen mit einer Maske zu schützen."

Hat das Maskentragen das Immunsystem geschwächt?

Trotzdem: In sozialen Netzwerken war zuletzt oft von gegenteiligen Auffassungen zu lesen. Die Schutzmaßnahmen seien für die jetzige Situation mit grassierender Grippe und hoher RSV-Welle mitverantwortlich, heißt es dort. Während der langen Zeit des Corona-Schutzes seien viele Infektionen ausgefallen, die das menschliche Immunsystem für den Abwehrkampf brauche.

Aus Sicht vieler Immunologen, Virologen und Mediziner ist diese Behauptung falsch. "Ein erwachsenes, voll entwickeltes Immunsystem verlernt nicht innerhalb kurzer Zeit, mit bestimmten Erregern umzugehen", sagt Mediziner Beier. Es gebe auch keine Mindestmenge an Infektionen, die jeder Mensch pro Jahr durchmachen müsse. Wenn man also einen Winter lang eine Infektion verhindert, heißt das nicht automatisch, dass man in dem Jahr darauf zwei durchmachen muss.

Beier: "Unser Immunsystem ist ein komplexes System, dass sich nicht durch das Tragen einer Maske aus dem Tritt bringen lässt."

Corona-Pandemie hat zu Rückstau von Infektionen geführt

"Grundsätzlich funktioniert das Immunsystem nicht wie ein Muskel, der schwächer wird, wenn man ihn weniger benutzt", sagt auch Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI). Hinzu komme: Trotz Maske im Gesicht und Desinfektionsmittel auf den Händen habe sich unser Immunsystem auch in Coronazeiten fleißig mit Keimen auseinandergesetzt. Man habe keinesfalls in einer sterilen Blase gelebt.

Allerdings: Durch die Pandemie sei es zu einem Rückstau von bestimmten Infektionen gekommen, so Watzl. Denn mit einigen Erregern, darunter Erkältungsviren, infizieren wir uns in unserem Leben immer wieder. Das liegt daran, dass die Immunität nach einer Infektion nicht allzu lange hält.

"Das heißt: Da bin ich alle paar Jahre wieder fällig. Und wenn ich mir dann diese Infektion nicht abhole und meine Immunität auffrische, dann bin ich immer noch fällig", so Watzl. Aber eben später. Das ist Watzl zufolge der Grund, weshalb es aktuell so viele Atemwegsinfekte gebe. Damit, dass das Immunsystem in Pandemie-Zeiten weniger leistungsfähig geworden wäre, etwa auch bei Kindern, habe das nichts zu tun.

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Mund-Nasen-Schutz: Immunsystem muss erst wieder anlaufen

"Das sogenannte systemische Immunsystem in Blut, Lymphknoten, Milz oder Knochenmark wird nicht durch das Reduzieren der respiratorischen Infekte in Herbst oder Winter beeinträchtigt. Egal, ob durch das Tragen einer Maske oder anderer Schutz-Regelungen", sagt DGfI-Präsidentin Christine Falk. Es befinde sich dann eher in einer Art Ruheposition und müsse bei einem Infekt erst wieder anlaufen. "Und das dauert dann gegebenenfalls etwas länger und man spürt das als übliche Erkältungssymptome", so Falk.

Auch der lokale Immunschutz im Nasen-Rachenraum sei bei fehlendem Kontakt weniger gefechtsbereit. "Daher ist dann die Infektabwehr an dieser Eintrittspforte nicht gut aufgestellt und man spürt das durch mehr Infektionen." Laut Christine Falk könne sich jeder selbst überlegen, ob man sich viele respiratorische Infekte einfangen möchte, bei denen der Schleimhautschutz wieder aufgebaut werden würde. Wer weiterhin Maske trage, werde dies mehr oder weniger verhindern – aber eben auch das individuelle Risiko schwerer Krankheitsverläufe.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.