Oldenburg. Niels Högel ist wegen weiterer 85 Morde zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Gericht stellte besondere Schwere der Schuld fest.

Niels Högel ist am Donnerstag vom Landgericht Oldenburg wegen weiterer 85 Morde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zugleich stellte die Kammer am Donnerstag die besondere Schwere der Schuld fest, was eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren in der Praxis so gut wie ausschließt. In 15 weiteren Fällen wurde er freigesprochen.

Es handelt sich um eine Geschichte wie aus einem Thriller: eine Reihe von Patiententötungen, bei der Dutzende unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten. Weil Höger sie umbrachte, einen nach dem anderen, und damit offenbar nicht aufhören konnte.

Der frühere Krankenpfleger hatte von 2000 bis 2005 an Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst die Patienten mit verschiedenen Medikamenten zu Tode gespritzt. Die Taten sprengten jegliche Grenzen, sagte der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann. Wegen sechsfachen Mordes war Högel bereits 2015 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der heute 42-Jährige war nun im größten Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte wegen weiterer 100 Morde angeklagt.

“Herr Högel, das Verfahren und die Taten sprengen jegliche Grenzen und überschreiten jeglichen Rahmen“, sagte Richter Sebastian Bührmann zu dem Angeklagten. Er habe aus niedrigen Beweggründen und teilweise aus Heimtücke gehandelt. Das Motiv für die Taten bleibe unklar. Es sei ihm um die “Gier nach Spannung“ gegangen.

Patientenmörder Niels Högel – vor dem Urteil entschuldigte er sich

Niels Högel hatte sich in seinem letzten Wort vor Gericht bei den Angehörigen seiner Opfer entschuldigt. „Bei jedem Einzelnen möchte ich mich aufrichtig für all das, was ich Ihnen über Jahre angetan habe, entschuldigen“, sagte der 42-Jährige am Mittwoch.

Es sei ihm während des Prozesses klar geworden, wie viel unendliches Leid er durch seine „schrecklichen Taten“ verursacht habe. „Ich wünsche mir für Sie alle, dass Sie nach dem abschließenden Urteil Frieden finden können.“

Niels Högel: Verteidigung forderte Freisprüche in 31 Fällen

Das Landgericht Oldenburg am Donnerstagmorgen: Zahlreiche Journalisten standen vor dem Eingang der Weser-Ems-Hallen, in die das Landgericht für den Prozess gegen den Patientenmörder Niels Högel aus Platzgründen ausweichen musste.
Das Landgericht Oldenburg am Donnerstagmorgen: Zahlreiche Journalisten standen vor dem Eingang der Weser-Ems-Hallen, in die das Landgericht für den Prozess gegen den Patientenmörder Niels Högel aus Platzgründen ausweichen musste. © dpa | Hauke-Christian Dittrich

Seine Verteidigerinnen hatten in 31 Fällen Freispruch für Högel gefordert. In 55 Fällen plädierten sie auf Mord und in 14 auf versuchten Mord. Als Gesamtstrafe sei eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, forderten Ulrike Baumann und Kirsten Hüfken in ihrem Schlussplädoyer.

Die Staatsanwaltschaft hatte für Högel wegen 97 Morden eine lebenslange Freiheitsstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld beantragt.

Richter: „Ich kam mir vor wie der Buchmacher des Todes“

Mit dem Urteil ging nach rund sieben Monaten ein Prozess zu Ende, der im In- und Ausland viel Beachtung fand. Die Schuld sei immens, sagte Richter Bührmann zu Högel. Zur Veranschaulichung verwies Bührmann auf das Rechtssystem in den USA, wo anders als in Deutschland Einzelstrafen addiert würden. Bei 85 Morden mit je einer Mindeststrafe von 15 Jahren wären dies 1275 Jahre, rechnete Bührmann. „Das gibt eine Ahnung von dem, was ich unfassbar nenne.“

Högel habe Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr getötet. Jeder einzelne Fall wurde vor Gericht behandelt. „Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes“, sagte Bührmann. „Tatsache ist: Manchmal reicht die schlimmste Fantasie nicht aus, um die Wahrheit zu beschreiben.“

Der menschliche Verstand müsse da kapitulieren, so der Richter. Es sei nicht gelungen, alle Antworten zu finden. Högel habe zwar eine Persönlichkeitsstörung, seine Handlungsfähigkeit sei aber nicht eingeschränkt gewesen.

Aufklärungswillen des Geschäftsführer des Klinikum in Frage gestellt

Bührmann betonte, er zweifele am Aufklärungswillen des Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg, Dirk Tenzer. Wichtige Protokolle und Strichlisten mit Todesfällen seien erst lange nach dem Mordurteil aus dem Jahr 2015 an die Ermittler weitergegeben worden. Außerdem sei offenbar durch von der Klinik bezahlte Zeugenbeistände versucht worden, Mitarbeiter in ihren Aussagen zu beeinflussen.

Christian Marbach, Sprecher der Angehörigen, nannte das Urteil einen „Meilenstein“. Für die Hinterbliebenen sei es eine Genugtuung. Nun gehe es darum, auch die Kliniken „zur Verantwortung zu ziehen“. Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sagte, die Mitschuld von Arbeitgebern, Kollegen und Behörden sei weiterhin unklar.

„Warum wurde weggeschaut, unter den Teppich gekehrt und die Ermittlung verzögert? Das gilt es aufzuklären und von Gerichten zu ahnden.“

Niels Högel ursprünglich wegen 100 Tötungsdelikten angeklagt

Ursprünglich war die Anklage von 100 Tötungsdelikten ausgegangen, in drei Fällen sah die Staatsanwaltschaft jedoch keine hinreichende Beweislage, die Niels Högel als Täter ausgewiesen hätte. (Az.: 5 Ks 1/18)

Im laufenden Verfahren haben sich auch schon Nebenkläger geäußert – genau wie die Angehörigen der Opfer. Auch der Oldenburger Klinik-Chef sagte im Prozess um Niels Högel aus.

In dem Prozess sollte auch die Fragen geklärt werden: Weshalb tötete Högel regelmäßig? Und welche Rolle spielten die Krankenhäuser. Der Chefermittler belastete im Verfahren auch die Kliniken. (dpa/ac/ba)