Berlin. Die übersexualisierten Zehnerjahre haben viele Menschen erschöpft. Immer mehr sagen: Ich habe derzeit keine Lust – und das ist okay so.

Liebe liegt in der Luft! Keine Frage, es wird wieder geflirtet in den Parks und Straßencafés. Doch wird das Leben jetzt, nach dem langen Lockdown, zu einem einzigen Rausch der Sinnlichkeit? Das Gegenteil scheint der Fall.

Die übersexualisierten Zehnerjahre sind vorbei. Themen wie Vielfalt, Geschlechterrollen und ein neues Miteinander bestimmen die öffentliche Diskussion. Statt Sex-Ratgebern finden sich in der Bestsellerliste Titel wie „Radikale Zärtlichkeit“, „Älterwerden ist voll sexy“, „Unsere Welt neu denken“ oder „Woman on Fire“.

Dagegen segelte der letzte Teil der „50 Shades of Gray“-Romanreihe schneller von der Chartspitze als Sadomaso-Milliardär Christian Sätze wie „Lass uns ins Bett gehen, ich schulde dir einen Orgasmus“ sagen kann. Mehr zum Thema: Was ist normal? So viel Sex sollten Paare pro Woche haben

#Metoo hat den Sex verändert

Fragen wie die, ob es Freiheit bedeuten kann, sich einem Mann zu unterwerfen, sind von gestern. „Es ist nicht das, was Frauen jetzt wollen“, schreibt „Guardian“-Kolumnistin Helen Rumbelow. Mit der #Meetoo-Bewegung, durch welche die sexualisierten Gewaltverbrechen realer Multimillionäre wie Jeffrey Epstein oder Harvey Weinstein aufflogen, habe sich die Sichtweise auf solche Fiktionen verändert.

Auch Studien weltweit deuten an: Wir werden zurückhaltender mit der Sexualität. Nach einer Umfrage des US-Dating-Portals „Plenty of Fish“ glauben 51 Prozent der befragten Singles, dass One-Night-Stands der Vergangenheit angehören. Social Distancing, so erklären es sich die Betreiber, habe sich in unseren Köpfen festgesetzt. Lesen Sie hier: Sex beim ersten Date: Tabu oder Anfang einer Beziehung?

Die Dating-App Tinder ermittelte, dass Anbahnungsgespräche seit der Pandemie um 32 Prozent länger geworden sind. Offenbar legen Nutzer es nun auf längerfristige Beziehungen denn auf schnellen Sex an. Viele haben die Erfahrung gemacht: Das sexy Tinder-Date vom Wochenende stellt einem während einer Quarantäne keine Tüte mit Einkäufen vor die Haustür.

Wechseljahre- So lässt sich die Lust wieder steigern

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    Auch auf Paare hatte Corona Auswirkungen: Laut einer aktuellen Studie der Sigmund-Freud-Universität Wien hat sich bei gut einem Drittel die Lust auf Partnersex im zweiten Lockdown verringert. Dabei hat ein Großteil der Paare die schwierige Zeit gut gemeistert, bestätigt auch die Forschung des Schweizer Beziehungswissenschaftlers Guy Bodenmann. Paare, die vor der Krise glücklich waren, seien immer noch glücklich miteinander – oder noch glücklicher.

    Kein Sex ist völlig okay

    Die Berlinerin Sonja (39) ist seit zwölf Jahren mit Falk (37) zusammen, das Paar hat zwei kleine Kinder. „Klar gab es Stress und Streit, aber wir haben während der Pandemie gemerkt, dass wir Dinge gemeinsam wuppen können. Sind wir dann noch übereinander hergefallen, wenn die Kinder im Bett waren? Nein.“ Und für Sonja ist das auch völlig in Ordnung.

    Liebe ohne Sex: Für immer mehr Menschen ist das kein Widerspruch.
    Liebe ohne Sex: Für immer mehr Menschen ist das kein Widerspruch. © Getty Images / iStockphoto | Strelciuc Dumitru

    „Wir brechen ein Tabu, wir haben keinen Sex, im Moment jedenfalls nicht“, sagt sie: „Wir wollen uns nicht mehr von einer Optimierungsindustrie verrückt machen, uns in Fetischkostümen lächerlich vorkommen und mit Handschellen abmühen.“ Ratgeberbücher, „Sexperten“ in Magazinen, Filme oder Werbungen, die einem ständig einreden, dass man zu wenig Sex hätte – Sonja blendet all dies aus. Auch interessant: Sexsucht: Wie viel Sex ist krankhaft – und wie viel gesund?

    „Eine Paartherapie, damit es wieder rappelt in der Kiste? Klingt nach Arbeit“, sagt sie und lacht. „Ich gehe gern mit Falk ins Bett – jeder mit seinem Buch.“ Dann wird sie ernster: „Erst seit 1997 gilt erzwungener Verkehr in der Ehe als Vergewaltigung. Den Optimierungswahn und dieses mediale Bombardement der letzten Jahre sehe ich als einen neuen Weg, die Frau verfügbar zu halten.“

    Abstinenz ist ganz normal

    Einen ungewöhnlichen Ansatz verfolgt Sexualtherapeutin Anica Plaßmann (Buch: „Sexfrei: Weil es okay ist, keine Lust zu haben“, Knaur): „Bei meinem Beruf denken alle, ich wolle dafür sorgen, dass die Menschen mehr Sex haben. Dass ich sage, keinen Sex zu haben ist auch in Ordnung, das irritiert erst einmal. Aber: Abstinenz ist weit verbreitet. Sie ist normal. Sie ist immer wieder unser aller Realität. Und sie wird völlig zu Unrecht stigmatisiert.“

    Denn wer Sex als Gradmesser für das Funktionieren einer Partnerschaft betrachtet, überlädt ihn mit Bedeutung. Das erhöht nur den Druck. Nicht die Abstinenz, sondern die Scham wegen der Abstinenz wird dann zum Problem. Lesen Sie hier: Menopause: Lassen sich mit Sex die Wechseljahre verzögern?

    Was aber, wenn nur einer der Partner keine Lust hat? Plaßmann: „Es ist wichtig, sich Zeit miteinander zu nehmen, nicht für Sex, sondern um über die Beziehung zu reden. Der eine Partner kann ausdrücken, wie sehr er intime Berührung vermisst, der andere kann dann sagen: ,Danke, dass du mich so sein lässt.‘“

    Ein Klischee ist es, dass es immer die Frauen sind, die keine Lust haben. „Männer denken, es werde von ihnen erwartet, dass sie immer wollen. Sie haben viel weniger gelernt, Sex auch abzulehnen“, sagt Plaßmann. Und manchmal verwechseln sie den Wunsch nach Zärtlichkeit mit dem nach Sex. „Männer wie Frauen dürfen Ja und sie dürfen Nein sagen. Sie werden das Beste daraus machen“, sagt sie.