Madrid. Spaniens gesellschaftlicher Wandel erstaunt Europa. Warum das Land nicht nur bei Frauenrechten Vorbild ist und wer dahinter steckt.

Ganz Europa staunt wie Spanien, das lange als erzkonservatives Macho-Land galt, sich zu einem fortschrittlichem Staat wandelt, in dem die Gleichberechtigung weit vorangeschritten ist. Mit seiner Frauen- und Gleichstellungspolitik gilt das Königreich inzwischen als europäisches Vorbild. Es ist ein Wandel, der durch Spaniens progressiven Regierungschef Pedro Sanchez angetrieben wird. Feministische Politik gehört zu seinen Prioritäten. „Wir leben in der Zeit der Frauen“, sagt er.

Das war in Spanien nicht immer so. Sánchez regiert in einem Land, in dem die Frauen in der 1975 untergegangenen Franco-Rechtsdiktatur unter der Vormundschaft der Ehemänner standen – mit dem Segen der Kirche. Heute sieht es anders aus: Spanien ist ein moderner, weltlicher Staat. Die Bischöfe verloren ihren Einfluss; nur ein Drittel der Bevölkerung zahlt noch Kirchensteuer.

Spanien: Regierung brachte „Nur-Ja-heißt-Ja-Gesetz“ auf den Weg

In den vergangenen Wochen brachte Sánchez` Koalitionsregierung gleich mehrere Reformen auf den Weg, die in ganz Europa Aufsehen erregten: Zum Beispiel das „Nur-Ja-heißt-Ja-Gesetz“, das die Verfolgung sexueller Übergriffe erleichtert, weil jede körperliche Annäherung ohne Zustimmung beider Partner als Gewalt geahndet werden kann. Oder den Menstruationserlass, der Frauen mit starken Regelschmerzen das ausdrückliche Recht einräumt, sich krank zu melden. Lesen Sie hier: Spanien verschärft Sexualstrafrecht: "Nur Ja heißt Ja"

Schon mit seinem Kabinett setzte Sánchez, dessen Sozialistische Partei zur sozialdemokratischen Familie gehört, klare Zeichen: 14 Frauen, neun Männer – in den meisten wichtigen Ministerien regieren Frauen.

Zu den einflussreichen Weichenstellerinnen, die Spaniens Reise in die Zukunft mitprägen, zählt auch Frauenministerin Irene Montero. Die 34-jährige studierte Psychologin ist eine der Galionsfiguren der Linkspartei Podemos, die als Juniorpartner mit den Sozialisten die Mitte-links-Regierung bildet.

Vor allem aus Monteros Ministerium stammen jene Gesetze, die Spaniens Ruf als Vorbild in der Gleichstellungspolitik prägen. Das beispielhafte Transgender-Gesetz gehört ebenfalls dazu. Es ermöglicht jedem Bürger ab 16, seine Geschlechtszugehörigkeit unbürokratisch zu ändern. Ohne ärztliches Attest, psychiatrische Gutachten und sonstige entwürdigende Hürden. Eine schlichte Erklärung auf dem Standesamt reicht.

Erfolge im Kampf gegen Femizide

Genaugenommen wurde der erste Meilenstein für Spaniens feministischen Aufbruch schon vor fast zwei Jahrzehnten gelegt. Und zwar mit einem „Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt“, das Rechte und Schutz von misshandelten Frauen sowie Strafen für Täter drastisch erhöhte.

Auch damals reagierte ein Sozialist. Er hieß José Luis Zapatero. Er schaffte es 2004, alle Parteien für sein Gesetz gegen Männergewalt ins Boot zu holen. Damals erschütterten besonders viele Gewalttaten gegen Frauen das Land. Doch die Reform bewirkte, dass die Zahl der durch Partner oder Ex-Partner getötete Frauen zurückging. Auch interessant: Spanien: Warum man Essensreste im Restaurant künftig mitnehmen muss

Inzwischen werden in Spanien, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, deutlich weniger Femizide registriert als in Deutschland. Im vergangenen Jahr registrierten die spanischen Behörden 44 solcher Taten im ganzen Land, in dem 47 Millionen Menschen leben. In Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern zählte das Bundeskriminalamt (BKA) zuletzt 139 Fälle derartiger Partnerschaftsgewalt innerhalb von 12 Monaten. Die letzten verfügbaren Zahlen des BKA stammen aus dem Jahr 2020.

Dem spanischen Anti-Gewalt-Gesetz folgte 2005 die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe mitsamt Adoptionsrecht – sehr viel früher als etwa in Deutschland, wo dies erst 2017 möglich wurde. 2010 setzten Spaniens Sozialisten eine äußerst großzügige Liberalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche durch (in Deutschland ist der Abbruch nur bis zur 12. Woche erlaubt).

Und dann kam, mit der konservativen Regierung von Mariano Rajoy, der große Stillstand. Rajoy wollte die Reformen zur Abtreibung und Homoehe rückgängig machen. Er konnte dies aber nicht durchsetzen, weil Frauen und Homosexuelle aus den eigenen Reihen protestierten.

Die Regierung Sánchez wackelt

Aber dafür beschnitt Rajoy andere spanische Errungenschaften: Wie etwa jene der Meinungsfreiheit, die durch ein „Maulkorbgesetz“ limitiert wurde. Dies bewirkte, dass seitdem immer wieder Rapp-Musiker, Journalisten oder auch Nutzer der sozialen Netzwerke auf der Anklagebank landen, weil sie angeblich staatliche Institutionen, Politiker, den König oder auch die spanische Flagge beleidigt haben.

2018 stolperte Rajoy über die Korruption und Pedro Sánchez übernahm. Der Wirtschaftswissenschaftler nutzt seitdem die Chance, das Rad der sozialen Reformen weiterzudrehen. Etwa mit der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, die ansonsten in Europa nur noch in den Niederlanden, in Luxemburg und Belgien erlaubt ist.

Doch auch die Ära des Reformers Sánchez könnte bald zu Ende gehen. Die opferreiche Corona-Pandemie mitsamt Wirtschaftseinbruch, die horrenden Energiepreise, die großen Einkommensverluste durch Rekordinflation, der im Land umstrittene Versöhnungskurs mit Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung – all das scheint Sánchez‘ Rückhalt geschwächt zu haben.

In Umfragen liegt die konservative Volkspartei mit ihrem neuen Chef Alberto Feijóo schon fast gleichauf. Zusammen mit der ebenfalls wachsenden rechtspopulistischen Partei Vox, die mit den Konservativen bereits in einigen Regionen regiert, könnte es in der Wahl Ende 2023 eine neue Mehrheit geben.

Konservative und Rechtspopulisten ließen bereits durchblicken, was sie nach einer Machteroberung als Erstes machen wollen: Spaniens Gleichstellungsministerium abschaffen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.