London/Berlin. Es stinkt in der Nordsee. Abwasser fließt ins Meer, verschmutzte Badeorte müssen Strände schließen – und die Regierung tut nichts.

  • Die Nordsee gehört zu den schönsten Regionen Deutschlands
  • Ganz anders dagegen die Lage an der Nordseeküste in Großbritannien
  • Wer dort baden geht, erlebt eine böse Überraschung

Das ist unangenehm – nicht nur in der Nase. "An uns ist Kot vorbeigeschwommen", berichtet Sian Young aus dem Littlehampton, "als ich mit meiner Tochter im Wasser war." Die Freude am Am-Meer-Leben sei ihr vergangen, sagte die 47-jährige Mutter den britischen "inews". "Wie kannst du den wunderschönen Strandblick genießen, wenn du weißt, dass er voller Scheiße ist?" Sie wolle wegziehen, ins Landesinnere. Irgendwie, nur weg von hier.

Littlehampton, einer Stadt in Südengland, ergeht es wie vielen anderen Badeorten entlang des Ärmelkanals, der britischen Nordseeküste und der Irischen See. Rund um die Insel herum strömen ungeklärte Abwässer in Seen, in die Flüsse und schließlich ins Meer. Etliche Badeorte müssen ihre Strände schließen, besonders in Cornwall.

Abermilliarden Liter sind es, die da ungefiltert in die Nordsee fließen. Zwischen 2016 und 2021 hat sich die Menge verdreißigfacht, zeigen Daten der Umweltbehörde Environment Agency. Großbritannien droht zum "dreckigen Mann Europas" zu werden.

Das Internet ist voller Häme, die Rocklegende Queen solle doch ihren Song "Radio Gaga" in "Radio Kaka" umbenennen heißt es. Der Kolumnist Mark Steel ätzte im "Mirror", wenigstens gäbe es bald eine braune Brücke nach Europa.

"Das stinkt nach Vertuschung" – Abwasser fließt aus der Kanalisation auf einen Strand in Wales, Großbritannien. © IMAGO / UIG

Nordsee: Abwasser ist internationales Politikum

Die ist sprichwörtlicher als er vielleicht denkt: Drei Französische EU-Abgeordnete beschweren sich bereits, werfen Großbritannien vor, seit dem Brexit seine Umweltverpflichtungen zu vernachlässigen.

Die Europäische Union solle "politische und juristische" Mittel ergreifen, die Verschmutzung zu beenden, fordern sie. "Der Kanal und die Nordsee sind keine Müllkippe", twitterte die französische Politikerin Stéphanie Yon-Courtin.

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Sie und ihre Kollegen fürchten um die Biodiversität, die Wasserqualität und letztlich die französische Fischerei. Einer der drei Beschwerdeführenden ist Pierre Karleskind, Vorsitzender des Fischereikommittees der EU. Auch Yon-Courtin, die aus der Normandie stammt, sitzt in dem Ausschuss. Lesen Sie dazu auch: Nordsee – "Aliens" im Wattenmeer – Urlaubsziel verändert sich

Die britische Seite will von den Vorwürfen nichts wissen. Da sei "einfach nichts dran", sagte ein Regierungssprecher der BBC. Ohnehin verharrt die britische Regierung kurz vor einem Personalwechsel in der Downing Street 10 wie gelähmt. Der scheidende Premierminister Boris Johnson will keine grundsätzlichen Entscheidungen mehr treffen.

Der Fischereihafen von Cherbourg, an der französischen Kanalküste. Britisches Abwasser wird zum Streitpunkt zwischen Großbritannien und der EU.
Der Fischereihafen von Cherbourg, an der französischen Kanalküste. Britisches Abwasser wird zum Streitpunkt zwischen Großbritannien und der EU. © IMAGO / ZUMA Wire

Johnsons konservative Partei wird von vielen Kritikern als Hauptschuldige für die verdreckten Meere ausgemacht. Denn die Fraktion verweigerte im Herbst 2021 eine Änderung des Umweltgesetzes, die Wasserunternehmen gesetzlich dazu verpflichtet hätte, kein Abwasser mehr in Flüsse zu pumpen. Die Favoritin auf Johnsons Nachfolge, Liz Truss, strich als Umweltministerin einst Millionen Pfund, die für den Kampf gegen Wasserverschmutzung eingeplant waren, wie die Zeitung "Guardian" berichtete.

Urlaub an der Nordsee: Großbritannien leitet Abwasser ins Meer

Das Problem ist ein hausgemachtes: Im britischen System fließen Regen- und Abwasser in den selben Rohren zur Kläranlage. Regnet es zu viel, reicht die Kapazität oft nicht aus. Verschärft wird das Problem vom Klimawandel. Die von der Hitzewelle ausgedörrten Böden können die Wassermassen nicht so schnell aufnehmen, wie sie vom Himmel fallen. Klärwerke laufen über, Häuser und Straßen werden überflutet.

Abwasser fließt aus einer Kläranlage in den Hafen von Hampshire.
Abwasser fließt aus einer Kläranlage in den Hafen von Hampshire. © IMAGO / Cover-Images

Damit das nicht passiert, dürfen Kläranlagen gelegentlich überschüssiges Wasser in Meere und Flüsse leiten. Und das passierte zuletzt immer häufiger. Verschärft wird der Zustand von nicht richtig funktionierenden – oder gar nicht erst eingebauten – Überwachungsanlagen.

Eine Auswertung der Opposition im Parlament ergab vergangenes Jahr, dass rund ein Viertel aller Abwässer unüberwacht eingeleitet worden sei. Die Liberaldemokraten wittern einen Skandal: "Diese neuen Zahlen stinken nach Vertuschung", schimpfte der umweltpolitische Sprecher der Partei, Tim Farron.

Abwasser in der Nordsee: Ärzte warnen vor schweren Krankheiten

Der Shitstorm an den britischen Küsten könnte auch gesundheitliche Folgen haben. Die Regierung selbst warnt, Schwimmen im offenen Wasser könne das Risiko von Magen-Darm-Erkrankungen erhöhen sowie Atemwegs-, Haut-, Ohr- und Augeninfektionen verursachen. Experten betonten, möglich seien sogar Ansteckungen mit Hepatitis A und anderen Krankheiten.

Auch Meeresfrüchte können ungenießbar werden. So fließen Abwässer auch in Gebiete, in denen Schalentiere gefischt werden. Im südostenglischen Whitstable wurde die Austernernte eingestellt, da nach dem Verzehr Norovirus-Symptome auftraten.

Die Regierung und Abwasserunternehmen machen geltend, dass ausreichende Schutzmechanismen in Kraft seien. Einem Bericht der Environment Agency und der Aufsichtsbehörde Ofwat zufolge würde die vollständige Trennung von Abwasser- und Regenwassersystemen zwischen 350 und 600 Milliarden Pfund kosten und die Nebenkosten um bis zu 1000 Pfund im Jahr pro Haushalt erhöhen.

Abwasser fließt auf einen Strand in Yorkshire, Großbritannien (Archivbild von 2013).
Abwasser fließt auf einen Strand in Yorkshire, Großbritannien (Archivbild von 2013). © IMAGO / Nature Picture Library

Kritiker weisen aber noch auf einen weiteren Grund für die verseuchten Strände hin: den Brexit. Bereits vor dem Votum über den EU-Austritt 2016 hatten Umweltverbände gewarnt, nach dem Brexit könne die Regierung Umweltvorschriften verwässern.

Erst strenge EU-Gesetze und Druck aus Brüssel hätten dazu geführt, dass Gewässer und Luft in Großbritannien sauberer wurden, hatte auch Stanley Johnson gesagt, der Vater des Noch-Premiers. Nun gibt der Umweltaktivist der Regierung die Schuld für die Situation. (mit dpa)