Washington. Insektenplage im Osten der USA: In der Hauptstadt Washington und Umgebung schlüpfen in den nächsten Tagen Abermillionen von Zikaden.

Sie sind dick, dumm und laut. Und sie sind viele. Sehr viele. Sie werden den Himmel verschatten, in Bäumen hocken und auf Bürgersteigen wie lebendiges Teer herumkrabbeln.

Sie werden den Menschen mit ihren blauschwarzen Körpern, roten Augen, bernsteinfarbenen Beinen und durchsichtigen Flügeln um die Köpfe schwirren und mit ihren Liebesliedern einen Krach veranstalten, der selbst Rasenmäher übertönt.

Sie – das sind mehrere Milliarden Mitglieder der Zikadengattungen Magicicada septemdecem, M. cassini und M. septendecula, die in den nächsten Tagen nach Überzeugung von Wissenschaftlern in Washington DC und mehr als einem Dutzend Bundesstaaten von Tennessee im Süden bis New York im Norden einfallen werden. Lesen Sie hier: Der Insekten-Burger kommt jetzt auch nach Deutschland

Washington im Alarmzustand

Weil dieses Naturschauspiel nur alle 17 Jahre stattfindet (zufällig der gleiche Zeitraum, den Jennifer Lopez und Ben Affleck zur Wiedervereinigung benötigten…), ist die Region im Alarmzustand. Auf der Internetseite www.cicadamania.com kann man verfolgen, wo die ersten Exemplare auftreten – immer nach Schema F.

Die Hauptstadtzeitung „Washington Post“ gibt ein tägliches Bulletin heraus. Stand gestern: In mehreren Stadtteilen ist der Waldboden bereits ordentlich durchsiebt. Dutzende Kokon-ähnliche Panzer auf engstem Raum zeugen davon, dass die „Invasion” im Gange ist. Auch interessant: Zombie-Ameisen: So treiben Parasiten Tiere in den Selbstmord

17 Jahre leben solche Zikaden unter der Erde, bis sie millionenfach schlüpfen.
17 Jahre leben solche Zikaden unter der Erde, bis sie millionenfach schlüpfen. © AFP | Chip Somodevilla

In dieser Woche wird der Großauftritt der Zikaden erwartet, denen Bob Dylan bereits in den 70er Jahren in „Day of the Locust” huldigte: „Yeah, die Heuschrecken sangen, und sie sangen für mich.” „Der Boden muss mindestens 18 Grad Celsius warm und am besten von etwas Regen aufgeweicht sein“, sagt der Wald- und Wiesen-Experte Matt Kasson von der Universität von West Virginia.

Schleimig-weiße Insekten kommen zum Vorschein

Wie auf Kommando kriechen dann Abermillionen Larven, die jahrelang Baumharz und Pflanzensaft geschlürft haben, durch selbst gebaute „Kamine“ aus ihren 2004 bezogenen Schläferquartieren in etwa 50 Zentimeter Tiefe. Damals war George W. Bush noch Präsident.

Oben angekommen, kraxeln sie die Bäume empor. Dann platzt ihr Panzer auf. Und ein schleimig-weißes Insekt kommt zum Vorschein. Nach zwei Stunden ist die kafkaeske Verwandlung abgeschlossen. Und ein ziemlicher Brummer, zwei bis drei Zentimeter lang, macht sich startklar zu einer zeitlich eng getakteten Liebestollerei, die immer tödlich endet. Für ihn.

Um Mrs. Zikade zu beeindrucken, stimmt Mr. Zikade mit seinen Trommelorganen tagelang bis zum Einbruch der Nacht einen wellenartigen Sirenen-Gesang an. Vorausgesetzt, ein böser Pilz (Massospora) hat das gesamte Hinterteil des brünftigen Männchens nicht bereits vorher abfallen lassen.

Gefällt der Vortrag der Ein-Mann-Boyband, sirent die Dame flügelschlagend zurück. Danach paaren sich die Wildfremden. „Er“ segnet das Zeitliche. „Sie“ legt wenige Wochen später bis zu 600 Eier in Baumrinden ab, die als Larven zu Boden fallen, sich einbuddeln und bedeckt halten. Ende Juni wird die Orgie vorüber sein und Millionen Mini-Kadaver hinterlassen. Bis die ganze Chose – im Großraum Washington – 2038 wieder von vorne losgeht.

Zikaden sind ungiftig, aber laut

Entomologen, vulgo: Insektenkundler, wissen um das Zikadentum seit dem 17. Jahrhundert. Was die auf die Woche genau eingehaltenen Zyklen erklärt, ist ihnen bis heute rätselhaft. Von eine biomolekularen inneren Wecker bis hin zu Langzeitauswirkungen der Eiszeit reichen die Vermutungen.

Brood X”, römisch Zehn, frisst sich nicht wie die gemeine Heuschrecke durch Flora und Fauna, sticht auch nicht, lebt nur von Luft und Liebe, bereichert den Speisezettel von Vögeln, Eichhörnchen, Waschbären, Fröschen und Haustieren und ist völlig ungiftig. Dafür nicht sonderlich schlau. Auch interessant:Riesenhornissen aus Asien bedrohen Amerikas Bienenvölker

Die hirnlosen Tiefflieger dringen durch den Kamin in Wohnzimmer ein, ersaufen in Swimmingpools, fallen bei Barbecue-Partys in die Salatschüsseln, beenden Picknicks und donnern vor die Scheiben von Autos und Häusern.

Wenn Millionen Zikaden durcheinandersingen, bringen sie es nach Messungen leicht auf 100 Dezibel und mehr. Ein Paradies für Tinnitus-Geschädigte, für den Rest eine Qual. Denn die Menge macht den Ton. Auf Fotos der letzten Invasion in Washington DC kamen einige Stadtteile auf 300 Tiere – pro Quadratmeter.

Zikaden als Proteinsnack

Jeff Grossmann, Washingtonian seit 40 Jahren, erinnerte sich im Gespräch mit dieser Zeitung an die letzte Lärm-Orgie Anfang der 2000er-Jahre: „In unserem Garten saßen gut und gerne 20.000 Zikaden auf einem Baum. Nach zwei Tagen trugen die Kinder Kopfhörer auf dem Schulweg. Zuhause konnten wir uns nur noch schreiend verständigen. Es war wirklich kaum mehr auszuhalten. Nur nachts hielten die Biester die Klappe.“

Die Grossmanns wollen in dieser Woche nach Kalifornien flüchten. Da ist zikadenfreie Zone.

Manche Küchenchefs machen aus der Plage ein Geschäft. Mit Mehl bestäubt, in Butter geröstet, paniert oder in Olivenöl frittiert, schreiben Gastro-Kritiker der „Washington Post“, sollen die proteinhaltigen und glutenfreien Zikaden recht ordentlich schmecken; etwa nach Kartoffeln, Tofu, Avocado oder Spargel. Mehr zum Thema: Darum sind Insekten das Nahrungsmittel der Zukunft

Roger Miller, ein Immobilien-Makler im Stadtteil Chevy Chase, schwört darauf, die Tierchen mit Schokoladen-Guss zu überziehen. „Wie M & M´s - und es knirscht so schön beim Kauen.” Wohl bekommt’s.