Berlin. 92-Jähriger steht wegen Totschlags vor Gericht. Die Pflege seiner dementen Partnerin trieb ihn in die Verzweiflung – und zum Äußersten.

70 Jahre waren sie glücklich verheiratet – dann erstickte der Ehemann seine Frau. „Aus Liebe“, wie der Anwalt des 92-jährigen Mannes aus dem Spessart sagte. Seit Dienstag muss sich der Hochbetagte vor dem Landgericht Würzburg wegen Totschlags verantworten, „ohne ein Mörder zu sein“, so Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach.

Jahrzehnte habe er sich um seine Ehefrau gekümmert, die an Demenz erkrankt war. Kinder hatte das Paar nicht. Zweimal die Woche kam eine Hilfe von einer Sozialstation. Irgendwann, als er am Ende seiner Kraft war, habe er es getan: Am Abend des 3. November 2019 nahm der Angeklagte laut Staatsanwaltschaft eine Decke, drückte sie seiner Frau ins Gesicht und erstickte die 91-Jährige.

Danach wählte er den Notruf, legte sich mit einem Föhn in eine Wanne voll Wasser und schaltete ihn an. Doch der Suizidversuch misslang. „Ich kann meine Frau nicht mehr versorgen. Es geht nicht mehr. Wir wollen nicht mehr leben“, sagte der Mann dem Polizisten, der ihn nach der Tat fand.

„Er war überfordert von der Pflege – und geradezu verzweifelt, weil seine Frau ins Heim sollte“, so sein Anwalt. Das wollten sie auf keinen Fall. Beide hätten verabredet, gemeinsam sterben zu wollen. „Uns gab es nur im Doppelpack“ – so der Rentner.

Depressionen im Alter werden unterschätzt

Die Vorstellung, ins Heim zu müssen, sei für viele Menschen existenziell, so Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Viele hätten Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung. „Wir haben eine Umfrage in Auftrag gegeben, ob Menschen jetzt Suizid begehen würden, wenn sie wüssten, dass sie nächstes Jahr in ein Pflegeheim kommen. Die Mehrheit hat mit Ja geantwortet.“ Mehr zum Thema: Acht Wege, Menschen mit Depressionen zu unterstützen

Doch das sei , so Brysch, „ein verzerrtes Bild der Altenpflege“, das „nicht gerechtfertigt“ sei: „In Deutschland leben etwa 900.000 Menschen in Pflegeheimen, die von rund einer halben Million Pflegekräften versorgt werden – und das sehr, sehr oft unter Bedingungen, die als durchaus selbstbestimmt gelten.“

Am Würzburger Landgericht hat der Prozess gegen einen 92-Jährigen begonnen, der seine kranke Ehefrau aus Mitleid getötet haben soll.
Am Würzburger Landgericht hat der Prozess gegen einen 92-Jährigen begonnen, der seine kranke Ehefrau aus Mitleid getötet haben soll. © dpa | Nicolas Armer

Etwa 10.000 Suizidfälle gibt es pro Jahr in Deutschland. Die Zahl ist „glücklicherweise in Deutschland in den letzten Jahren rückläufig. Aber der Anteil der alten Menschen ist überproportional hoch“, so Brysch. Er liegt laut Statistiken für über 65-Jährige bei etwa 35 Prozent, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur 21 Prozent beträgt.

„Da müssen wir genauer hinschauen“, sagt Brysch. „Depression im Alter wird weiterhin unterschätzt und als natürliche Wesensveränderung hingenommen. Hier sind die niedergelassenen Ärzte gefordert, die Krankheit zu erkennen.“

Ärztin erkennt Lebensmüdigkeit

Eine, die genauer hinsieht, ist Christiane Wähner, Fachärztin für Gerontopsychiatrie der Bochumer Augusta-Kliniken. Sie sieht Paare, bei denen sie spürt, dass der Wunsch zu sterben aufkommt. „Die Fantasie, gemeinsam in den Tod zu gehen, kommt bei vielen alten Leuten vor“, sagt die Ärztin.

Die Gründe dafür seien vielfältig. Nicht selten sei aber auch die jugendbetonte Gesellschaft schuld, sagt der bekannte Psychiater Manfred Lütz: „Eine Gesellschaft, die altersdiskriminierend wirkt, kann dazu führen, dass ein alter Mensch den Eindruck bekommt, er gehöre nur noch zum alten Eisen.“ Lesen Sie hier: Was es heißt, wenn der Partner an Depression erkrankt

Häufig führten Faktoren wie Angst vor Krankheit, Angst vor Einsamkeit oder eben die Angst, ausgeliefert zu sein, zum Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, so Psychiaterin Wähner. Nicht immer sind es Depressionen, sondern eine Art „Lebensmüdigkeit“, so die Ärztin. „Dabei gibt es viele Hilfen, gerade auch ambulante Hilfen.“

Aber viele alte Leute schicken die Hilfen weg. Und verschweigen die Probleme. „Da ist viel Bockigkeit dabei.“

Auch der Hausarzt des Angeklagten hat nichts von den Suizidgedanken gewusst, sagt er. Er habe den Senior stets als „rüstigen Rentner erlebt, der sich sehr liebevoll und viel um die Ehefrau gekümmert hat“.