Berlin. Eine Zahl regiert Deutschland: die Inzidenz. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Hauptindikator für das Coronainfektionsgeschehen.

Täglich starren wir auf diese eine Zahl: Ist sie gesunken? Etwa gestiegen? Die Sieben-Tage-Inzidenz bestimmt wie kein anderer wissenschaftlicher Richtwert aktuell das politische Handeln und die gesellschaftliche Debatte in der Corona-Pandemie.

Kritiker fordern, sich nicht nur auf diese Messgröße des Infektionsgeschehens zu kaprizieren. Trotzdem ist die Inzidenz bis dato in der öffentlichen Wahrnehmung der maßgebliche Indikator für Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen Sars-CoV-2. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu einer umstrittenen Zahl:

Was bedeutet „Inzidenz“?

Der Begriff geht zurück auf das lateinische Verb „incidere“ (vorfallen, sich ereignen). Epidemiologen bezeichnen mit Inzidenz die relative Häufigkeit von Vorfällen – gemeint sind Neuerkrankungen – in einer Population oder Personengruppe innerhalb einer bestimmten Zeitspanne.

Die Inzidenz, also die Zahl der Neuerkrankungen, ist neben der Prävalenz, der Zahl der bereits Erkrankten, Gradmesser für die Häufigkeit einer Krankheit in einer Bevölkerung.

Die Inzidenz wird oft ausgewiesen als Zahl der Neuerkrankungen in einem Jahr pro 100.000 Menschen. Bei einem extrem dynamischen Infektionsgeschehen kann die betrachtete Zeitspanne auch deutlich kürzer sein.

In der Covid-19-Pandemie wird die Inzidenz in der Europäischen Union mehrheitlich anhand der Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner über eine Spanne von zwei Wochen ermittelt. Es handelt sich also um eine 14-Tage-Inzidenz. Deutschland schert an dieser Stelle aus: Die Inzidenz wird auf Grundlage der Sars-CoV-2-Neuerkrankungen binnen einer Woche ausgewiesen.

Wie berechnet sich die Sieben-Tage-Inzidenz?

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in Deutschland die statistische Kennziffer für die medizinisch nachgewiesenen und registrierten Sars-CoV-2-Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen. Ausgewiesen wird dabei die Zahl der Neuerkrankungen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche.

Die Sieben-Tage-Inzidenz wird vom Robert Koch-Institut (RKI) auf Basis der von den Gesundheitsämtern gemeldeten Fallzahlen jeweils für die Bundesrepublik, die Bundesländer, die Landkreise und die kreisfreien Städte errechnet und tagesaktuell veröffentlicht. Konkret werden die labordiagnostisch nachgewiesenen Covid-19-Fälle auf die Gesamtbevölkerung oder Region hochgerechnet. Die Dunkelziffer in der nicht-getesteten Bevölkerung wird bei dieser Inzidenz nicht berücksichtigt.

Ein Blick in die Fußgängerzone im Zentrum von Hof. Die bayerische Stadt an der Grenze zu Tschechien weist mit 567,38 die höchste Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland aus (Stand: 14.04.2021).
Ein Blick in die Fußgängerzone im Zentrum von Hof. Die bayerische Stadt an der Grenze zu Tschechien weist mit 567,38 die höchste Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland aus (Stand: 14.04.2021). © dpa | Nicolas Armer

Welche Kritik gibt es an der Sieben-Tage-Inzidenz?

Die Sieben-Tage-Inzidenz dient in erster Linie dem Vergleich und der Festlegung von Grenzwerten. Sie ist nicht gleichzusetzen mit einer auf repräsentativen Stichproben basierenden epidemiologischen Inzidenz.

Schon Ende vergangenen Jahres kritisierten Mediziner um die Professoren Matthias Schrappe (Universität Köln) und Gerd Glaeske (Universität Bremen), beide Mitglieder im Sachverständigenrat Gesundheit der Bundesregierung, dass nur die den Gesundheitsämtern vorliegenden positiven Testergebnisse auf die jeweilige Population hochgerechnet würden, die Dunkelziffer aber unberücksichtigt bliebe. Das RKI sei daher „nicht in der Lage, verlässlich Angaben zum Auftreten neuer Sars-CoV-2-Fälle zu machen“.

Für die Sieben-Tage-Inzidenz würden unsystematisch gewonnene positive Testergebnisse aus unterschiedlichen Stichproben über eine Woche gesammelt. So ließe sich weder zur Gesamtpopulation noch zur Dunkelziffer eine verwertbare Aussage machen.

Die Grenzwerte der Sieben-Tage-Inzidenz könnten „nicht sinnvoll angewendet werden“, weil die Instrumente „nicht das messen, was sie messen sollen“, kritisierten die Mediziner. Wird zum Beispiel die Zahl der Testungen erhöht – etwa bei Ausbrüchen oder für Studien – kann dies zu einem Anstieg der Fallzahlen führen, da zuvor unentdeckte Corona-Infizierte erkannt werden.

Durch eine verzögerte Übermittlung kann es zudem zu einer Unterschätzung der Sieben-Tage-Inzidenz kommen, da den Gesundheitsämtern nicht alle Daten vollständig vorliegen. Solche Verzögerungen treten bundesweit regelmäßig an Feiertagen und an jedem Wochenende auf.

Kritiker aus Wissenschaft, Politik und Justiz sagen deshalb, die Inzidenz allein sei als Grundlage für pandemiepolitische Maßnahmen wie die „Bundesnotbremse“ – also die Beschränkung von Grundrechten – ungeeignet. Zusätzlich müssten auch andere Indikatoren einbezogen werden, etwa die Zahl der freien Betten auf Intensivstationen oder die Altersverteilung der Erkrankten.

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    Was passiert bei einer Inzidenz über 100?

    Das Bundeskabinett hat am Dienstag Ergänzungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, die der Bundesregierung vorübergehend mehr Durchgriffsrechte verschaffen. Sollten Bundestag und Bundesrat in der nächsten Woche zustimmen, gelten ab einer 100er-Inzidenz bundesweit die gleichen Regeln.

    Konkret bedeutet die „Bundesnotbremse“: Überschreitet die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinander folgenden Tagen die Schwelle von 100, gelten in der betroffenen Region ab dem übernächsten Tag schärfere Maßnahmen. Diese bleiben in Kraft, bis die Inzidenz an fünf aufeinander folgenden Tagen die Schwelle von 100 unterschreitet. Dann treten die Extra-Auflagen am übernächsten Tag wieder außer Kraft.

    Die Beschränkungen sind umfassend: Private Kontakte sind nur noch zwischen einem Haushalt und einer weiteren Person möglich. Kinder bis 14 Jahre zählen extra. Für Zusammenkünfte von Ehe- und Lebenspartnern oder zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts gilt das nicht. Zwischen 21 und 5 Uhr darf man seine Wohnung oder sein Grundstück nicht mehr verlassen. Ausnahmen von der Ausgangsbeschränkung sind unter anderem bei gesundheitlichen Notfällen oder Behandlungen, zur Ausübung eines Berufs oder Mandats oder zur Wahrnehmung von Sorge- oder Umgangsrecht möglich.

    Lesen Sie dazu:Notbremse: Wann kommen die härteren Lockdown-Regeln?

    Freizeiteinrichtungen, Kulturstätten und Gastronomie müssen schließen, ebenso Geschäfte oder Märkte mit Kundenkontakt. Ausgenommen sind der Lebensmittelhandel und andere Bereiche der unmittelbaren Daseinsvorsorge wie Apotheken, Drogerien, Optiker, Tankstellen, Buchhandlungen, Tierbedarfs- und Futtermittelmärkte und Gartenmärkte. In geschlossenen Räumen müssen Kunden eine FFP2-Maske oder eine medizinische Maske tragen.

    Der Bund soll zudem bei einer Inzidenz von über 100 eigene Verordnungen zum Infektionsschutz erlassen können, was normalerweise Ländersache ist. Aber: Auch Erleichterungen sind möglich, insbesondere für Menschen, die als immun gelten oder einen negativen Test vorweisen können.

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    Was passiert bei einer Inzidenz über 200?

    Die 200er-Inzidenz-Grenze gilt nach den Ergänzungen des Infektionsschutzgesetz für Schulen und Kitas. Diese exklusive, großzügiger gefasste Notbremse im Bildungsbereich trägt den Klagen von Schülerinnen und Schülern sowie Elternvertretern gegen den breiten Ausfall von Präsenzunterricht Rechnung und soll den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, möglichst lange in den Klassen zu lernen.

    Die neugefasste Regel gilt ebenfalls bundesweit: Überschreitet die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Schwellenwert von 200, wird ab dem übernächsten Tag der Präsenzunterricht in Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnlichen Einrichtungen verboten. Ausnahmen für Abschlussklassen und Förderschulen sind möglich.

    Diese Bremse gilt auch für Kitas, die Länder können aber Notbetreuung ermöglichen. Die Schulbremse tritt außer Kraft, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz an fünf aufeinander folgenden Tagen unter 200 liegt.