Berlin. 60 und der Rest von heute: Unsere Kolumnistin zählt die Tage, bis sie als vollständig geimpft gilt. Und übt schon mal den Einkaufstrip.

Die Jungs waren ja früher alle beim Bund. Es sei denn, sie konnten bei der Hardcore-Verweigerung Fragen aushalten wie: Was machen Sie, wenn vor Ihren Augen Ihre Mutter vergewaltigt wird? Gelitten haben sie alle, ob sie in einer Schreibstube landeten oder sich beim Manöver im Nordseestrand eingraben lassen mussten. Was sie einte, war ihr Erzähldrang. Und das Begrüßungsritual: Wie geht`s? Muss. Und selbst? 180 und der Rest von heute.

Noch 180 Tage also, oder etwa ein halbes Jahr Wehrdienst hieß das. Ich zählte damals die Tage bis zu den Sommerferien. Oder bis Weihnachten. Später: Semesterferien. Bis zum Urlaub, der mich vom Job der Kassiererin erlöste. Noch 20 Mal schlafen, dann liege ich am Strand. Ich bekam Flirren im Bauch, wenn ich zählte: Noch drei Mal schlafen bis zum Date.

Im Impfpass zwei Aufkleber, dazu 14 Warte-Tage – und dann?

Jetzt habe ich die totale Freiheit in Aussicht. Irgendwann im Sommer ist mein Impfpass mit zwei Aufklebern geschmückt, dann kommen noch mal 14 Warte-Tage dazu, und ich habe es überstanden. Grob geschätzt: Noch 60 mal schlafen und der Rest von heute, bis ich sagen kann: No Covid.

Wie sich das anfühlen könnte, habe ich diese Woche an meinem freien Tag geübt: Beim Spaziergang fiel mir eine leere Teststation auf. Nicht warten, nicht zahlen: Nach zehn Minuten hatte ich mein negatives Testergebnis auf dem Smartphone. Und nun? Soll ich zur Friseurin gehen? Zur Fußpflege?

Ich entschied mich zu einem Besuch in einer Mall. Viele Markenshops, jede Menge Sale, alles auf Hochglanz – und nahezu menschenleer. Eine viel zu dünne Puppe im Schaufenster trägt ein Kleid, das ich gerne anprobieren würde. Dunkelblauer Strick, genau mein Stil.

Pandemie ist, solange die Verkäuferinnen nur herumstehen

Im Shop stehen drei Verkäuferinnen herum und unterhalten sich. Ich stelle mir vor, wie sie sich freuen würden, wenn ich sie von ihrer Langeweile erlösen könnte. „Kann ich helfen“. würde die erste sagen. Ich würde aufs Kleid zeigen und fragen, ob es in meiner Größe da ist. Die zweite würde meine Figur abschätzen und nach hinten verschwinden. Die Dritte würde im Laden weitersuchen, was sie mir sonst noch in die Umkleidekabine bringen könnte.

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© FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ich würde anziehen und ausziehen, mit Reißverschlüssen kämpfen und den Bauch verfluchen. Das Kleid im Schaufenster würde mir wahrscheinlich an den Hüften spannen. Die anderen, ganz ehrlich, „sind nicht so mein Ding“, würde ich sagen. Womöglich würde ich die Damen beschäftigen, ohne die Kreditkarte aus dem Portemonnaie zu ziehen. Was für eine Enttäuschung.

All dies läuft vor meinem geistigen Auge ab, während ich durch meine FFP-2-Maske atme und auf die Schaufensterpuppe mit dem Sommerkleid starre. Dummerweise schweift mein Blick ab und trifft sich mit dem einer Verkäuferin, die nun aus dem Laden kommt und mich anspricht. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen“, fragt sie. Schönes Kleid, sage ich und zeige in Richtung Puppe. „Wollen Sie es vielleicht anprobieren?“ Nein, danke. „Ich muss leider weiter. Demnächst vielleicht.“

Pandemie ist, solange die Bläserklasse draußen übt

Wenn die zwei Aufkleber im Impfpass sind. Wenn in der Redaktion wieder jemand ist, dem das Kleid auch auffällt. Wenn ich abends damit einen Cocktail an der Theaterbar trinken kann, bevor der Gong ertönt. Wenn die Teenie-Tochter, die Studentenkinder, der Gatte durchgeimpft sind. Die Freunde, die Kolleginnen, die ganze Welt da draußen.

Wenn die Kinder der Bläserklasse, die derzeit auf dem Schulhof gegenüber übt, in der Aula beweisen können, dass sie sogar Töne aus Trompete, Horn und Posaune bekommen.

60 und der Rest von heute – so einfach ist das mit dieser Pandemie nicht. Aber vielleicht mache ich gleich noch mal einen Test, setze mich auf die Terrasse eines Cafés, lese ein wenig Zeitung, trinke einen grünen Tee, serviert mit Gebäck. Es ist ein Anfang.

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