Brüssel/Ankara. Peinliches Nachspiel zum Besuch der EU-Spitze in der Türkei: Von der Leyen und Michel müssen zum Rapport, Erdoğan weist Vorwürfe zurück

Erst ging es nur um die Sitzordnung beim Treffen der EU-Spitzen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara. Wurde Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gezielt als Frau aufs Sofa verbannt, während Ratspräsident Charles Michel neben Erdoğan auf dem Stuhl sitzen durfte? Inzwischen sorgt in Brüssel nicht nur das für schwere Verstimmung.

Im Parlament erhebt die Fraktion der Christdemokraten unter CSU-Vize Manfred Weber massive Vorwürfe und spricht schon von einem gescheiterten Besuch in Ankara – sie lädt deshalb Michel und von der Leyen ins Parlament vor zu einer Debatte über die Visite. Aus der Türkei kommt eine irritierende Klarstellung.

Weber erklärte am Donnerstag, der Besuch der EU-Spitzen hätte ein Zeichen der europäischen Standfestigkeit und Einigkeit sein sollen. „Leider ist daraus ein Symbol der Uneinigkeit geworden, weil die Präsidenten nicht in der Lage waren zusammenzustehen, als es nötig gewesen wäre.“ Eine Filmaufnahme von der Sitzordnung bei dem Treffen mit Erdoğan am Dienstag hatte zunächst in sozialen Medien für Aufsehen gesorgt: Während für Michel ein großer Stuhl neben dem türkischen Staatschef reserviert war, bekam von der Leyen einen Platz auf einem Sofa in mehreren Metern Entfernung zugewiesen. Dort saß sie dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gegenüber.

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Von der Leyen pocht auf Gleichbehandlung

Von der Leyen war über diese Platzierung sichtlich irritiert, reagierte spontan und vergeblich mit einem lauten „Ähmm“. Kritiker waren schnell sicher: Der „Macho“ Erdoğan habe von der Leyen als Frau absichtlich und als gezielten Affront in die zweite Reihe verwiesen. Diese Behandlung sei eine „Schande“, schimpfte später etwa die Fraktionschefin der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Iratxe Garcia Perez. Auch von der Leyens Sprecher erklärt nun, die Kommissionspräsidentin hätte „exakt auf gleiche Weise platziert werden müssen“ wie Michel und Erdoğan. Nur wegen der Corona-Krise seien Beamte des Kommissions-Protokolls nicht in die Reisevorbereitungen in Ankara involviert gewesen.

Normalerweise erfahre von der Leyen bei Auslandsreisen genau die gleiche Behandlung wie der Ratspräsident. So war es meist auch bei ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker – allerdings nicht immer. Nach dem Protokoll ist Michel als Präsident des Rates der EU-Mitgliedstaaten der offizielle Repräsentant der Union im Ausland. Also die Nummer eins. Darauf verweisen auch Michels Mitarbeiter. Der Ratspräsident spricht selbst von einer „strikten Auslegung der Protokollregeln durch die türkischen Dienste“, bedauert im Nachhinein aber die Ungleichbehandlung.

Türkei weist Vorwürfe als unfair zurück

Kritiker in Brüssel werfen Michel vor, er hätte direkt eingreifen und sich auf von der Leyens Seite stellen müssen. Michel erklärt aber, er habe aus der Sitzordnung keinen öffentlichen Vorfall machen wollen, das inhaltliche Gespräch mit Erdoğan sei wichtiger gewesen. Doch damit wird der Ratspräsident im Parlament kaum durchkommen. Der türkische Außenminister wies am Donnerstag Vorwürfe an Ankara als „unfair“ zurück und versicherte, die Platzierung sei „in Übereinstimmung mit dem Vorschlag der EU gemacht“ worden. „Die Forderungen und Vorschläge der EU-Seite wurden erfüllt“, sagte Cavusoglu.

Wenn das stimmt, hätte Michel jetzt ein größeres Problem. Klar, zwischen den beiden Präsidenten der Kommission und des Rates gibt es stets eine latente Rivalität, das war auch bei Juncker und seinem Gegenpart Donald Tusk so. Doch hier geht es um mehr. Peinlich ist die Sache für Brüssel so oder so. Im Parlament ist EVP-Fraktionschef Weber schwer verärgert. „Wir erwarten mehr von der EU-Außenpolitik“, schimpft er.

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Hat die EU-Spitze zu große Zusagen gemacht?

Und der Ärger geht über Protokollfragen hinaus: Inzwischen hat die größte Fraktion im EU-Parlament den Verdacht, bei dem Besuch in Ankara hätten Michel und von der Leyen dem Gastgeber Erdoğan auch zu viel versprochen. „Wir sind extrem besorgt über Zusagen zu Visa oder der Zollunion, ohne dass es eine konkrete Änderung der türkischen Politik im östlichen Mittelmeer gibt“, sagt Weber. Zudem sei der Besuch dabei gescheitert, die umfassendere Kritik an Erdoğans Angriffen auf die Zivilgesellschaft und an der Inhaftierung politischer Gegner deutlich zu machen.

„Das muss geklärt werden“, fordert Weber. Die EVP will deshalb eine Parlamentsdebatte zu dem aus ihrer Sicht missglückten Türkei-Besuch ansetzen – „in Anwesenheit der beiden Präsidenten“, wie Weber betont.

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