Berlin. Warum lief die Evakuierung aus Afghanistan im August so überstürzt? Wer schätzte die Lage so falsch ein und warum? Um diese und weitere Fragen zu beleuchten, formiert sich ein Untersuchungsausschuss.

Untersuchungsausschüsse machen viel Arbeit. Deshalb richtet sie der Bundestag immer nur dann ein, wenn etwas gründlich schiefgelaufen ist. Die hektische Evakuierung aus Afghanistan im Sommer 2021 ist so ein Fall.

"Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht für eine transparente Aufklärung zu sorgen", sagte der designierte Ausschussvorsitzende Ralf Stegner (SPD) bei einer ersten Plenardebatte am Donnerstag.

Das zwölfköpfige Gremium, das voraussichtlich am 7. Juli seine Arbeit aufnimmt, soll klären, was die Bundesregierung, die Bundeswehr, die Nachrichtendienste und die Bundespolizei vor, während und kurz nach dem Abzug der letzten deutschen Soldaten und Diplomaten aus Afghanistan entschieden und getan haben - un auch, wer damals für einzelne Entscheidungen die Verantwortung trug.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) befürwortet die Untersuchung. Deutschland habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten große Verantwortung in Afghanistan getragen. Deswegen sei es wichtig, gemeinsam und nicht mit Schuldzuweisungen aus den Fehlern des Bundeswehreinsatzes zu lernen, um es in Zukunft besser zu machen.

Einig über Notwendigkeit der Untersuchung

Nicht nur die Koalitionsfraktionen stehen hinter dem Antrag , der die Aufgaben des Untersuchungsausschusses definiert. Auch CDU und CSU sind mit im Boot. Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) erklärte, die Vorgänge müssten kritisch und ohne Ansehen von Personen und Ämtern aufgearbeitet werden. "Das schulden wir insbesondere den Menschen, die wir dort in diesen Einsatz hineingeschickt haben." Kritik kam lediglich von AfD und Linken: Sie möchten grundsätzlich den Sinn des gesamten Afghanistan-Einsatzes untersuchen und nicht nur den überstürzten Abzug.

Konkret geht es darum, durch die Sichtung von Dokumenten und die Befragung von Zeugen herauszufinden, wer wann welche Entscheidungen traf, zum Beispiel zur Räumung der Botschaft oder zum Schutz lokaler Mitarbeiter der Bundeswehr. Um möglichst viele Perspektiven abzubilden, wird auch überlegt, ehemalige afghanische Mitarbeiter deutscher Institutionen - sogenannte Ortskräfte - nach ihren Erfahrungen zu befragen.

Der Ausschuss betrachtet einen Zeitraum, der mit dem 29. Februar 2020 beginnt. An diesem Tag hat die US-Regierung - damals noch unter Präsident Donald Trump - mit den Taliban das sogenannte Doha-Abkommen unterzeichnet. Die Islamisten verpflichteten sich in der katarischen Hauptstadt Doha im Gegenzug für den Abzug der US-Truppen unter anderem zu Friedensgesprächen mit der afghanischen Regierung und der Beteiligung an einer inklusiven Regierung. Wie man inzwischen weiß, kam es ganz anders.

Schlusspunkt der Untersuchung soll der 30. September 2021 sein - ein Monat, nachdem die letzten US-Soldaten den Flughafen Kabul verließen. Dort hatten sich in der zweiten Augusthälfte dramatische Szenen abgespielt, als Ausländer und Afghanen versuchten, einen Platz in einem Flugzeug zu ergattern, um das Land zu verlassen, weil sie eine Neuauflage der 2001 beendeten Herrschaft durch die Islamisten fürchteten.

Bundeswehr war 20 Jahre im Land

Die Bundeswehr war Ende Juni 2021 nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abgezogen. Sie hatte sich im August nach dem Siegeszug der militant-islamistischen Taliban an einer Evakuierungsmission für Schutzbedürftige beteiligt, darunter waren auch einige Afghanen, die zuvor als Ortskräfte deutscher Institutionen in dem Land gearbeitet hatten. Die Taliban hatten Mitte August ohne größere Gegenwehr der afghanischen Streitkräfte in der Hauptstadt Kabul die Macht übernommen. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wie auch der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) und andere Mitglieder der alten schwarz-roten Bundesregierung haben Fehleinschätzungen der Lage in dem zentralasiatischen Krisenland eingeräumt.

Über die Luftbrücke der Bundeswehr, die auch Menschen aus anderen Staaten ausflog, kamen nach Regierungsangaben 4587 Menschen nach Deutschland, davon 3849 Afghanen und 403 deutsche Staatsangehörige.

Die Linke hat der alten und der neuen Bundesregierung vorgeworfen, bislang nicht genug für die Ortskräfte getan zu haben. Etliche von ihnen warten in Afghanistan immer noch auf eine Möglichkeit zur Ausreise. Einige ehemalige Ortskräfte waren untergetaucht, weil sie Racheakte durch die Taliban fürchteten.

Mit der Frage, ob der langjährige Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und die deutschen Entwicklungsprojekte dort sinnvoll und zumindest teilweise erfolgreich waren, beschäftigt sich der Untersuchungsausschuss nicht. Das wird Aufgabe einer Enquete-Kommission des Bundestages sein, die sich dafür Unterstützung von Wissenschaftlern holt.

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