Berlin. Arbeitgeberpräsident Dulger kritisiert die Ampel-Pläne. Er fordert einen späteren Renteneintritt - und ein Ende der Corona-Hilfen.

Viele Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland dürften nach Bekanntwerden der Sondierungs­ergebnisse aufgeatmet haben: Höhere Steuern, vor allem aber die Einführung einer Vermögenssteuer scheinen vom Tisch zu sein. Damit scheint sich eine Kernforderung der deutschen Unternehmerverbände erfüllt zu haben. Rundum zufrieden ist Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), mit den Ergebnissen trotzdem nicht.

Herr Dulger, freuen Sie sich auf die neue Regierung?

Rainer Dulger: Freude steht hier nicht im Vordergrund. Die deutsche Wirtschaft hat klare Erwartungen. In diesem Land muss sich vieles ändern. Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung sind die entscheidenden Stichworte. Deutschland braucht eine Regierung, die Aufbruchstimmung vermittelt. Wir brauchen einen Reformkanzler, der endlich diese Dinge anpackt und gemeinsam mit uns bewältigt.

Wird das Sondierungspapier, das die Ampel-Partner vorgelegt haben, Ihren Erwartungen gerecht?

Dulger: Da ist viel Licht, aber auch viel Schatten. Warten wir jetzt erst einmal die Koalitionsgespräche ab. Da wird es dann um Details und Konkretes gehen. Aber klar ist: Ohne weitere Reformen bei den Sozialversicherungen drohen vier weitere Jahre Stillstand. Das Ergebnis der Sondierung gibt keine Antworten auf die Alterung der Gesellschaft und die steigenden Finanzierungslasten der Rentenversicherung.

Wenn die Ampel wirklich Vorfahrt für Reformen und Modernisierung anzeigt, kann sie eine Chance für Deutschland sein. Wenn sie Regulierung, mehr Geld ausgeben und Bevormundung den Weg weist, dann werden es verlorene Jahre für Deutschland.

Olaf Scholz war SPD-Generalsekretär, als Gerhard Schröder die Agenda 2010 durchsetzte. Welche Sozialreformen halten Sie jetzt für geboten?

Dulger: Wir haben die klare Erwartung, dass eine neue Bundesregierung das entschlossen anpackt. Unsere Sozialsysteme sind belastet, vor allem bei der Rente. Die sozialen Sicherungssysteme sind aber nur dann verlässlich, wenn sie auch nachhaltig finanzierbar bleiben. Mit einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren kommen wir nicht hin. Wir sollten das Renteneintrittsalter in der Form dynamisieren, dass es mit steigender Lebenserwartung automatisch angehoben wird.

Also bald Rente mit 70?

Dulger: Sie hören von mir jetzt keine Zahl. Mir geht es darum, dass wir endlich eine offene und ehrliche Debatte darüber führen – und dass wir daraus Reformen ableiten. Das gilt nicht nur für die Rentenversicherung, sondern auch für die Pflege- und die Krankenversicherung. Da sind die Kassen leer, die Kosten explodieren. Aufgrund des demografischen Wandels werden wir viel mehr Leistungsempfänger als Leistungsgeber haben. Das Schlimme ist: Jeder in Berlin kennt diese Zahlen, aber keiner will offen darüber reden. Im Gegenteil: Es werden sogar noch Leistungsausweitungen besprochen.

Die Ampel-Parteien haben jetzt einen Mindestlohn von zwölf Euro für das nächste Jahr vereinbart.

Dulger: Dass dieses neue Ampel-Bündnis die Mindestlohnkommission aushebeln will, ist indiskutabel. Das ist ein schwerer Eingriff in die Tarifautonomie. Wenn den Dialog über Mindestlöhne nun nicht mehr die Sozialpartner führen sollen, dann kann man die Arbeit in der Kommission auch beenden und die letzten drei Jahre waren Zeitverschwendung.

Was würde ein Mindestlohn von zwölf Euro für die Unternehmen bedeuten?

Dulger: Das wäre brandgefährlich. Ein Mindestlohn von zwölf Euro würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig machen. Eine derartige Mindestlohngrenze würde eine enorme Lohnspirale nach oben erzeugen und somit den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte unheimlich erschweren.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. © dpa

In welcher Verfassung ist die deutsche Wirtschaft im zweiten Corona-Herbst?

Dulger: Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind wir ganz gut durch die Krise gekommen. Wenn wir weiter gewissenhaft impfen, kommen wir auch gut durch den Winter. Was die konjunkturelle Lage angeht, ist Corona schon jetzt nicht mehr unser größtes Problem …

… sondern?

Dulger: Die Materialverknappung und die logistischen Probleme machen den Unternehmen gerade am meisten zu schaffen. Es könnte sogar sein, dass es in diesem Jahr nicht genug Weihnachtsgeschenke gibt. Die Waren sind da, aber sie kommen in unseren Häfen nicht an. Das werden wir vor allem bei der Unterhaltungselektronik merken.

Werden die Corona-Hilfen überflüssig?

Dulger: Wir müssen in Deutschland zurück zur Normalität, das steht außer Frage. Die Kurzarbeit werden wir in einigen Branchen noch eine Weile brauchen – vielleicht auch über den Jahreswechsel hinaus. Sie ist ein gutes Instrument, um den Arbeitsmarkt stabil zu halten. Die Corona-Hilfen sollten zum Jahresende auslaufen.

Wie denken Sie über einen Lockdown für Ungeimpfte, also die konsequente Anwendung der 2G-Regel?

Dulger: Das sollte der Staat nicht vorschreiben. Aber ich respektiere und verstehe, wenn Restaurants, Hotels, Bars oder Theater sich für die 2G-Regel entscheiden. In meinem Betrieb in Heidelberg bitte ich alle Mitarbeiter, sich impfen zu lassen oder sich regelmäßig zu testen. Und das tun diese auch. Es geht ja um den Gesundheitsschutz aller Beschäftigten.

Google und Facebook lassen in den USA nur noch Geimpfte ins Büro …

Dulger: Es ist nicht der richtige Weg, den Mitarbeitern zu sagen: Wenn du dich nicht impfst, darfst du nicht mehr zur Arbeit kommen. Wir Arbeitgeber hätten uns aber gewünscht, dass wir unsere Mitarbeiter fragen dürfen, ob sie geimpft sind oder nicht. Einfach, um ein klares Bild zu haben und somit auch unsere Belegschaft am besten schützen zu können. Aber der Gesetzgeber hat das anders entschieden. Deswegen können wir unseren Auftrag, die Mitarbeiter bestmöglich zu schützen, auch nicht erfüllen.

Sollte die neue Regierung hier nachbessern?

Dulger: Die Impfabfrage ist ein Thema, über das wir weiter diskutieren sollten.

Viele Menschen sorgen sich, weil die Inflationsrate erstmals seit 28 Jahren über vier Prozent gestiegen ist. Sie auch?

Dulger: Die Inflation ist in erster Linie gestiegen, weil die Senkung der Mehrwertsteuer aufgehoben wurde. Dadurch werden alle Konsumgüter teurer. Was mir wirklich Sorgen macht, sind die steigenden Energiepreise. Deutschland hat als stärkste Industrienation Europas eine Energiewende beschlossen, die nicht konsequent zu Ende gedacht war.

Wir sind erst aus der Atomkraft ausgestiegen und steigen jetzt aus der Kohle aus. Wenn wir es umgekehrt gemacht hätten, dann hätten wir im nächsten Winter vielleicht ein Problem weniger. Die Unternehmen, aber auch ihre Beschäftigten sind auf bezahlbare Energie angewiesen. Was im Augenblick passiert, ist besorgniserregend.

Haben Sie eine Lösung?

Dulger: Die nächste Bundesregierung sollte die Abgabenlast auf Energie deutlich senken. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.

Frankreich setzt immer noch voll auf die Atomenergie. Kann Deutschland so schnell darauf verzichten?

Dulger: Wir können die Energiewende schaffen. Aber das geht nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft. Die Kohlekommission hat sich als Abschlussdatum zur Kohleverstromung auf 2038 verständigt. Dazu stehen wir. Wenn sich aber herausstellt, dass wir die Ausstiegsziele zu ehrgeizig gefasst haben und alternative Energien erst später sicher liefern können, dann sollten wir offen und ehrlich über andere Alternativen diskutieren.

Plädieren Sie dafür, Kohle- und Kernkraftwerke länger laufen zu lassen?

Dulger: Es sind ja kaum noch Meiler am Netz. Wir brauchen daher von der neuen Bundesregierung zügig ein belastbares Energie- und Stromversorgungskonzept, das Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Preise sicherstellt. Sonst wird sie beim Kohleausstieg an einer Verlängerung der Fristen kaum vorbeikommen.