Washington. Bei einer Kontrolle hat ein Polizist in Michigan einen Schwarzen buchstäblich hingerichtet. Es ist ein weiterer Fall von Polizeigewalt.

Warum schießt ein Polizist einem mit dem Gesicht in den Vorgarten eines Reihenhauses gedrückten Schwarzen, der sich nach einer banalen Fahrzeugkontrolle seiner Festnahme erwehrte, aus weniger als 50 Zentimeter Entfernung ohne Vorwarnung tödlich in den Hinterkopf?

Die Frage bewegt seit gestern das nach George Floyd/Minneapolis für exzessive Polizeigewalt hochsensibilisierte Amerika und bringt die Ordnungshüter in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan in große Erklärungsnöte.

Dort starb der 26-jährige Afro-Amerikaner Patrick Lyoya, ein seit 2015 in den USA lebender Einwanderer aus der Demokratischen Republik Kongo, auf die beschriebene Art und Weise; zu sehen in mehreren teilweise verwackelten Videos.

Fall Patrick Lyoya: "Black Lives Matter" spricht von Hinrichtung

Die von Bürgerrechts-Organisationen wie "Black Lives Matter" als Hinrichtung bezeichnete Aktion ereignete sich bereits am 4. April.

Erst am Mittwoch, neun Tage später, zeigte Eric Winstrom, der Polizeichef der 200 000 Einwohner zählenden Stadt am Michigan-See, vier verschiedene Video-Sequenzen.

Wobei die Body-Kamera des bisher namentlich nicht genannten Streifenbeamten, der bis auf Weiteres vom Dienst beurlaubt ist, im entscheidenden Moment abgeschaltet war. Angeblich, weil im Handgemenge zwischen Cop und Lyoya manueller Druck auf das Gerät ausgeübt worden sei. Von wem? Nicht klar.

Bevölkerung protestiert gegen Polizeigewalt

Winstrom sprach bei einer Pressekonferenz, erkennbar blass, von einer "Tragödie". Er zeigte Verständnis für Wut und Schmerz in der Bevölkerung, die bereits zu Hunderten auf einen Protestmarsch ging, und sicherte das Ortsübliche zu: eine transparente und umfassende Untersuchung.

Nach noch bruckstückhaften Schilderungen der Polizei hatte Cop X den jungen Schwarzen in einem Wohngebiet angehalten, weil an dessen Auto die Nummernschilder nicht zum Wagen passten.

Nachdem Lyoya weglief, zog der Polizist den Taser

Schon zum Auftakt lief der Einsatz schief. Lyoya tat, was niemand tun sollte, der in den USA auf offener Straße von der Polizei angehalten wird: Er stieg aus. Der Cop forderte ihn auf, sich wieder in sein Fahrzeug zu setzen – Lyoya ignorierte das. Man hört den Schwarzen fragen: "Was habe ich falsch gemacht?"

Dann eskaliert die Sache rasend schnell. Der Schwarze rennt weg, Cop hinterher, mit dem Elektroschocker-Gerät ("Taser") in der Hand. Man hört das schnarrende Taser-Geräusch, wenn es aktiviert ist - ohne Wirkung. Nach 90 Sekunden Rangelei bringt der Polizist Lyoya zu Fall. Mehrfach hört man den Cop schreien: "Lass den Taser fallen!". Ob der 26-Jährige, der nicht bewaffnet war, das Gerät tatsächlich in der Hand hatte, ist auf den von der Polizei veröffentlichten Videos nichts zu erkennen.

Cop schießt fixiertem Opfer in den Hinterkopf

Dann, binnen weniger Sekunden, das tödliche Ende eines profan begonnenen Polizeieinsatzes: Der Cop liegt mit den Knien voran mit seinem ganzen Gewicht seitlich auf dem Rücken des Schwarzen, zieht mit der rechten Hand seine Dienstpistole - und drückt ab. Hinterkopfschuss.

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© Bill Pugliano/Getty Images/AFP

Danach entfernt er sich einige Meter von der Leiche, schreit einen mit der Handy-Kamera aktiven Unbeteiligten an ("Geh zurück"), der offenbar der Beifahrer von Lyoya war, und funkt seine Dienststelle an. Ende der öffentlichen gezeigten Indizienkette.

Gouverneurin spricht Opferfamilie Mitgefühl aus

Ben Crump, seit Jahren Anwalt in Fällen wie diesen, bezeichnete die Polizeigewalt als "eindeutig unnötig und übertrieben". Lyoya sei "verwirrt" gewesen und habe dann, wie viele Schwarze, die mit der Polizei in Kontakt kommen, "um sein Leben gefürchtet". Der Jurist verlangte die Kündigung und strafrechtliche Verurteilung des Todesschützen in Uniform.

Bezirksstaatsanwalt Chris Becker hat hingegen noch keine Schritte unternommen. Er bitte um Geduld, bis die Bundesstaatspolizei von Michigan die Untersuchungen abgeschlossen hat.

Gretchen Whitmer, die demokratische Gouverneurin des Bundesstaates, bekundete der Familie des Getöteten (zwei Töchter, vier Brüder), der einst wegen der Gewalt in seinem Heimatland Kongo nach Amerika geflohen war, ihr Beileid.

400 Tote durch Polizeigewalt seit 2016

In US-Medien wird der Fall prominent platziert. Verbindungen zu George Floyd werden gezogen. Der Schwarze starb 2020 in Minneapolis, weil ihm der weiße Beamte Derek Chauvin, ebenfalls nach einer Bagatelle, sein Knie fast neun Minuten lang auf den Hals gedrückt hatte - alles auf Video aufgenommen.

Was Patrick Lyoya widerfahren ist, ist kein Einzelfall. Seit 2016 sind bei ähnlichen gelagerten Kontrollen in den USA rund 400 Menschen von der Polizei erschossen worden, obwohl sie nicht bewaffnet waren, die Beamten bedroht hatten oder wegen schwerer Verbrechen gesucht wurden. Die New York Times hatte das Phänomen in einer Langzeitrecherche untersucht und kam zu niederschmetternden Erkenntnissen. Danach herrsche eine Polizei-Kultur, in der bei Verkehrskontrollen extreme Gewaltanwendung präventiv als akzeptabel gilt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de