Kiew. Zehntausende Ukrainer kehren täglich in die Heimat zurück. Eine Reportage über Menschen, die es dorthin zurückzieht, wo der Krieg tobt.

Hinten auf der Rückbank im Oberdeck des Busses sitzt eine kleine, runde, Frau, zwei schlafende Kinder und daneben, in einem vergitterten Kunststoffkorb, eine Katze. Ob sie von weit hergekommen sind? „Aus Deutschland“, antwortet die Frau. Wie lange sie dort waren. „Vier Wochen?“ Und wo? „In Ludwigshafen und in Alzey“, ihre Antworten bleiben einsilbig. Wie es ihr gefallen hat? „Dort war alles gut. Aber es bleibt doch ein fremdes Land“, sie klingt trotzig.

Und was sie von der Zukunft in der Heimat in der Ukraine erwartet. „Wir hoffen“, ihr Gesicht wird immer ungeduldiger, „dass der Krieg bald endet.“ Es gibt Ukrainerinnen, die jetzt absolut keine Lust haben, mit Journalisten zu reden. Sie antworten einsilbig.

Der Krieg in der Ukraine wechselt das Standbein. Die russischen Angreifer haben ihre Streitkräfte aus der Nordukraine und dem Umland der Hauptstadt Kiew abgezogen, um sie für die Entscheidungsschlacht im Donbass zu formieren. Die ukrainische Zivilbevölkerung reagiert offensichtlich sofort. Von etwa 4,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die ins europäische Ausland flohen, sind bis zum 14. April schon 870.000 zurückgekehrt, so die Vereinten Nationen unter Berufung auf die ukrainischen Grenzbehörden. Rückreiseverkehr ganz eigener Art, aus dem sicheren, aber fremden Europa in einen Krieg, in dem weiter Bomben und Raketen fallen.

Ukraine: Nicht nur Geflüchtete kehren heim

Busse aller Generationen, auch Pkws rollen über die rumänische, moldawische, ungarische, aber vor allem über die polnische Grenze. Jeden Tag verkehrt wieder ein Zug zwischen Warschau und Kiew. Aber nicht alle der 30.000 Ukrainer, die nach offiziellen Angaben täglich heimkehren, sind Geflüchtete. In Polen lebten vor dem Krieg bereits etwa 1,3 Millionen polnischer Gastarbeiter, schon damals fuhren jede Nacht dutzende Busse aus Warschau Richtung Kiew.

„Ich war in Warschau zu Besuch bei Freunden“, erzählt eine blonde Frau, die um ein Uhr nachts in Lemberg auf den verspätenden Verbindungsbus nach Chmelnizki wartet. „Wir gehen alle weiter zur Arbeit, alles funktioniert wie immer“, versichert sie.

Der nächtliche Busbahnhof ist voller Menschen, sie tragen Rucksäcke, übergroße Reisetaschen versperren den Gang im Untergeschoss des Busses Richtung Kiew. Die heimkehrenden Flüchtlinge erkennt man oft daran, dass sie ihre Hunde oder Katzen dabei haben. Und fast alle sind Frauen und Kinder, Männer dürfen wegen der Wehrpflicht das Land erst ab 60 Jahren verlassen.

Wenn die Raketen kommen „gehen wir eben in den Keller“

Der Bus fährt weiter, ostwärts, durch die Nacht, auf dem Unterdeck sind die Hälfte der Plätze frei, leise Gesprächsfetzen schweben durch die Luft, „unsere Jungs… russische Drohnen… sie waren schneller… Putin...“, eine junge Frau, unterhält sich abwechselnd auf Russisch und Ukrainisch mit ihrer Freundin. „Nach dem Krieg… ans Meer… Murr liebt Sand.“ Murr heißt der schöne, rötlich-weiße Husky, der unter ihrem Sitz liegt, er hat ein blaues und ein goldgelbes Auge, sein nationalfarbender Blick verfolgt alles aufmerksam.

Anastasia Tschmil und ihr Hund Murr
Anastasia Tschmil und ihr Hund Murr © Dmytro Durnjew

Anastasia Tschmil, 21, floh mit ihrem Hund aus der Kiewer Vorstadt Swjatopetrowsk, nachdem dort Ende März mehrere Zivilisten durch Artilleriegeschosse getötet worden waren. Aber Anastasia, Verkäuferin, hat es nur eine Woche bei ihrer polnischen Gastfamilie in Wollin an der Ostsee ausgehalten. „Die Leute waren total nett und ihre zwei Hunde haben sich gut mit Murr verstanden.“ Aber zu Hause hätte der Beschuss nachgelassen. Und neben ihrem Mann, der Berufssoldat ist, hätten sie auch ihren Vater einberufen. „Ich kann meine Mutter doch nicht allein lassen.“ Und wie die meisten anderen Heimkehrer sagt Anastasia, sie werde nicht mehr wegfahren, auch wenn wieder Raketen fliegen: „Dann gehen wir eben in der Keller.“

Draußen graut der Morgen, wieder Halt, Umsteigen, wieder Gedränge, diesmal in Ternopil. Die Sitze im Bus sind eng und ausgebeult, „Uscita di Sicurezza“ „Notausgang“ steht auf italienisch über den Fensterscheiben.

Die Ukraine kämpft auch um ihre Ernte

Auf der hügeligen Ausfallstraße staut sich morgendlicher Berufsverkehr, die Gebäude sind unversehrt. In der Ferne stapfen Männer hinter Pferdepflügen über schmale Äcker zwischen riesigen Feldern, auf denen die Saat grünt. Die Ukraine kämpft um ihre erste Kriegsernte. Nur die mit Sandsäcken verbarrikadierten Kontrollpunkte an den Ortseingängen erinnern daran, das weiter im Osten Kämpfe toben. Die Straßenschilder wurden abmontiert, um feindlichen Kolonnen die Orientierung zu erschweren.

Die Passagiere essen riesige Wurstbutterbrote oder Bitterschokolade. Ein übermüdetes kleines Mädchen bricht sein Frühstück wieder aus. Marina, zwei Sitze weiter, arbeitet im polnischen Wrocław als Lkw-Lotsin und will in ihr Heimatdorf in der lange umkämpften Region Sumy im Norden, um ihre 15-jährige Tochter herauszuholen. Ihre alte Mutter muss dort bleiben, weil Marina mit ihrem Gehalt in Polen nicht auch noch sie ernähren kann. Und ihr Sohn, auch Soldat, liegt im Lazarett, mit schweren Quetschungen nach einem Artillerieanschlag. Marina erzählt sachlich, wie sie zusammengebrochen ist, als sie davon gehört hat.

Die Ukrainerinnen fahren heim, wirklich frohe Gesichter sieht man trotzdem kaum. Es sind Gastarbeiterinnen, die zwischen dem Frieden in Polen und dem Krieg zu Hause pendeln. Oder Heimkehrerinnen, die hoffen, am Rand der Bombardements wieder etwas Alltäglichkeit zu finden.

Unter der Vater? Er ist in Mariupol

Nur die ältere Tochter der Frau mit der Katze schwärmt lächelnd von Deutschland. „Die Schule war super, alles war so ordentlich, ich wäre am liebsten da geblieben“. Der Elftklässlerin machte es Spaß, Deutsch zu lernen. „Aber ich und meine kleine Tochter, wir wollen nach Hause,“ mischt sich jetzt ihre Mutter ein. Wer dort auf sie wartet? Die Mutter verstummt, aber ihre Tochter ist nicht zu stoppen: „Niemand, unser Vater dient ja in der Armee.“ Wo er dient? „In Mariupol“ - sagt die Tochter und lächelt. Das Gesicht der Mutter verfinstert sich. Mariupol ist seit Anfang März eingekesselt, tausende Verteidiger sind gefallen, den Übrigen droht Gefangenschaft oder Tod.

Vor Kiew zwingen zertrümmerte Autobahnbrücken den Bus mehrfach zu Umwegen. Vor ausgebrannten Raststätten stehen rostig braue Metallskelette, nur mit Mühe ist zu erkennen, dass es einmal Panzer waren.

Der Bus rollt jetzt durch das halb leere Kiew. Ein kleiner magerer Mann im Oberdeck schläft nicht, isst nicht, sondern schaut mit ernsten grauen Augen vor sich hin. Er heißt Waleri und kommt aus Posen, wo er als Arbeiter in einer polnische Fensterfabrik 700 Euro netto verdient. Auch er will nach Hause, nach Krywyj Rih. „Meine Mutter rief an, mein Einberufungsbefehl sei angekommen. Da habe ich begriffen, warum ich mich seit acht Wochen so miserabel fühlen“.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.