Berlin. Nach den Krawallen in Frankreich warnt ein Sozialverband vor Parallelen zu Deutschland. Auch die Gewerkschaft der Polizei ist besorgt.

Die tagelangen Ausschreitungen in Frankreich haben Schockwellen ausgelöst, die bis nach Deutschland reichen – und befeuern eine Debatte darüber, ob eine vergleichbare Explosion von Frust, Hass und Gewalt auch hierzulande möglich wäre. Erinnerungen werden wach an die Silvesterkrawalle zum Jahreswechsel. Damals hatte es in Berlin, Essen, Hannover und anderen deutschen Städten heftige Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrleute gegeben.

Reicht ein Funke, damit sich in Deutschland anhaltende Krawalle wie in unserem Nachbarland entzünden? „Damit rechne ich nicht“, antwortete Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag in einem ARD-Interview. Er verwies darauf, dass seine Regierung im vergangenen Jahr viel getan habe, um die hohen Energiepreise abzufedern und die Versorgung mit Energie zu sichern.

Außerdem gebe es in Deutschland einen „sehr leistungsfähigen Sozialstaat und eine gute wirtschaftliche Zukunft“, hob der SPD-Politiker hervor. Scholz betonte jedoch auch: „Wir müssen alles dafür tun, dass der Zusammenhalt in unseren Gesellschaften gut funktioniert.“ Ob dies in Deutschland gelingt, ziehen Sozialverbände allerdings in Zweifel.

Sozialverband: „Besorgniserregende Parallelen“ zu Frankreich

„Auch wenn die Lage nicht direkt mit der in Deutschland vergleichbar ist, kann man doch teilweise besorgniserregende Parallelen erkennen“, sagt die Vorstandsvorsitzende vom Sozialverband Deutschland (SoVD), Michaela Engelmeier, dieser Redaktion zur Lage in Frankreich. „Auch hier fühlen sich viele sozial benachteiligt, wenn nicht sogar bereits abgehängt. Durch hohe Inflation und Preisanstiege reicht es für immer mehr Menschen gerade noch so für das Wesentliche.“ Explodierende Mieten verdrängten zudem viele Bürger aus den Städten.

In Nanterre steigt Rauch aus einem ausgebrannten Bus.
In Nanterre steigt Rauch aus einem ausgebrannten Bus. © dpa | Lewis Joly

In Deutschland waren nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2022 gut 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht einem Fünftel der Bevölkerung. Einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge ist die Armut in Deutschland über das vergangene Jahrzehnt „deutlich“ angestiegen.

Der „spürbar fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft“ müsse dringend entgegengewirkt werden, fordert SoVD-Vorstandschefin Engelmeier. „Denn schon heute wirkt sich das ‚sich nicht vertreten fühlen‘ in Politikverdrossenheit, der wachsenden Bereitschaft, Parteien an den Rändern zu wählen und in politischem Extremismus aus.“

Warnung vor „spürbar fortschreitender Spaltung der Gesellschaft“

Das französische Protestgeschehen sei schon immer anders gewesen als in Deutschland, blickt der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, auf das Nachbarland. Aber: „Auch in Deutschland sind an bestimmten Orten solche Krawalle denkbar, denn auch in Deutschland nimmt die Ablehnung der Demokratie, des Staates und staatlicher Autorität zu“, sagte Kopelke dieser Redaktion und verweist auf die vergangene Silvesternacht.

„Auch hier sind in bestimmten urbanen Bereichen Menschen auf sich allein gestellt und werden mehr und mehr zu Verlierern der Transformation der Arbeitswelt, der Digitalisierung oder Integrationsherausforderungen.“

In der Ampel-Koalition wird infolge der Geschehnisse auf der anderen Rheinseite neben sozialen Problemen ein weiteres Thema aufgeworfen: die Migration. Die Gewalt in Frankreich ging in vielen Fällen von Jugendlichen aus, deren Familien eine Einwanderergeschichte haben. „Unkontrollierte Zuwanderung und enorme Defizite in der Integrationspolitik sind eine Bedrohung für die innere Sicherheit“, warnte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai in der „Bild“-Zeitung. „Die Politik in Deutschland sollte sich intensiv mit den Ereignissen in Frankreich beschäftigen.“

Frankreich weckt Erinnerungen an Silvesterkrawalle in Deutschland

Nach den Silvesterkrawallen in Deutschland war anhand der Nationalitäten der Festgenommenen umgehend über ihre Herkunft diskutiert worden. „Die während der Krawalle durchgeführten Festnahmen zeigen, dass überwiegend junge Männer an den Ausschreitungen beteiligt waren“, schrieb mit einigem zeitlichen Abstand die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Analyse zu den Ursachen der Silvesterkrawalle. „Auffällig hoch ist die Zahl der jungen Männer, die über einen Migrationshintergrund verfügen.“

In Paris ging die Polizei mit Tränengas gegen Randalierer vor.
In Paris ging die Polizei mit Tränengas gegen Randalierer vor. © AFP | Ludovic Marin

Die Autoren warnten zugleich: „Die Ursachen für die Exzesse der Silvesternacht lassen sich aber nicht auf Herkunft reduzieren.“ Auch mit Blick auf Gewaltprobleme in Brennpunktvierteln greife der „alleinige Verweis“ auf „kulturell bedingte Männlichkeitsvorstellungen oder religiöse Faktoren“ deutlich zu kurz. Die Verfasser sehen eine Vielzahl von Gründen, die zu einer „sozialen Desintegration“ in bestimmten Wohnquartieren führten, etwa ein fehlender Zugang zu Bildung, zu geregelter Arbeit, zu angemessenem Wohnraum und zu Kultur. Und ein ganz wichtiger Faktor: Armut.

Sind Problemkieze der Nährboden für Krawalle wie in Frankreich?

Entsteht in deutschen Problemkiezen der Nährboden für Gewaltexzesse wie in Frankreich? Durch die Unruhen geraten die „Banlieues“ mal wieder in den Fokus: Die sozial abgehängten Vorstädte der französischen Metropolen gelten als Hort der Perspektivlosigkeit – und das seit Jahrzehnten.

Vielfach haben es die Nachfahren früherer Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien noch immer schwer, in Frankreich Anerkennung sowie Zugang zu höherer Bildung und guten bezahlten Jobs zu bekommen.

Auch in Deutschland hapert es bei der Integration, die Missstände in den „Banlieues“ gelten allerdings als weitaus schlimmer als die Schwierigkeiten in sozial schwachen Teilen deutscher Städte.

In Marseille gab es zahlreiche Festnahmen.
In Marseille gab es zahlreiche Festnahmen. © AFP | CLEMENT MAHOUDEAU

„Französische Integrationspolitik zeichnet sich seit Jahrzehnten durch mehr Härte aus“, sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Lamya Kaddor, dieser Redaktion. Die Beschränkung der Einwanderung, auch der Arbeitsmigration, und die Rhetorik der „Kontrolle der Migrationsströme“ sei in Frankreich schon lange an der Tagesordnung. „Das Land hat bereits eine sehr niedrige Schutzquote von Asylsuchenden im Vergleich zu Deutschland.“

Polizeigewerkschaft: Frankreich beobachten und „Vorsorge treffen“

Die letzten Gesetzänderungen unter Präsident Emmanuel Macron erlaubten zudem die Inhaftierung ausländischer Kinder oder erleichterten die Abschiebung von Asylsuchenden noch vor einer Entscheidung über ihren Asylantrag. Kaddor sieht dies kritisch und warnt davor, aus den Ereignissen in Frankreich Schlüsse für die deutsche Integrationspolitik zu ziehen.

„Man kann in Frankreich studieren was passiert, wenn man die Tabubrüche der Rechten akzeptiert“, sagte die Tochter syrischer Einwanderer. Viele Forderungen der Rechtspopulistin Marine Le Pen seien inzwischen „salonfähig, ja allgemeiner Konsens“. Die Spaltung der französischen Gesellschaft sei da – „und ich kann uns nur warnen, diesen Weg zu gehen“, fügte die Grünen-Abgeordnete aus Duisburg hinzu.

Der GdP-Bundesvorsitzende Kopelke fordert: „Landesregierungen und Bundesregierung müssen sehr aufmerksam beobachten, was in unserem Nachbarland geschieht und schnell Vorsorge treffen.“ Der Schlüssel für den Polizisten: „Bildung und Arbeit.“

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