Berlin. Gaza wird in Schutt und Asche gelegt. Auch für die israelischen Geiseln bedeutet das große Gefahr. Ihre Familien flehen jetzt um Hilfe.

„Die Zeit läuft uns davon!“ Efrat Machikawa hat eine Sanduhr vor sich aufgestellt. Sie dreht sie um, der dunkelgrüne Sand beginnt nach unten zu rinnen. Sie rechnet vor, wie lange die israelischen Geiseln bereits in der Gewalt der Hamas sind – 101 Tage, also 8.726.400 Sekunden. Jede davon ist eine zu viel, das will Machikawa zeigen. Sie spricht über ihren Onkel, Gadi Moshe Moses. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober wird der 79-Jährige von den Terroristen im Gazastreifen gefangen gehalten. Machikawa hofft, dass er noch lebt. Die medizinischen Bedingungen sollen furchtbar sein, so berichten es freigelassene Geiseln.

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Die schlaflosen Nächte stehen Machikawa ins Gesicht geschrieben. 21 Angehörige, Vertreter von rund zehn Familien, sind Mitte Januar nach Berlin gekommen, um eines zu erreichen: Ihre gekidnappten Familienmitglieder sollen nicht vergessen werden. Sie hoffen: Weil die Opfer deutsche Wurzeln haben, dürfte ihr Schicksal hier auf besonderes Interesse stoßen. In der hermetisch abgeschirmten israelischen Botschaft erzählen sie, wer Tamir, Itay, Shay und all die anderen Geiseln sind – und was sie über ihren Verbleib wissen.

Da ist Tamir Nimrodi, der 19-Jährige, der auf einem Militärstützpunkt nahe dem Grenzübergang Erez als Lehrer gearbeitet hat. Tamir wurde als einer der ersten Soldaten von Hamas-Terroristen gekidnappt. Er ist der älteste Sohn von Alon Nimrodi. Der Mittfünfziger ist verbittert. „Mein Sohn lebt nach dem Prinzip, keinem Menschen zu schaden, und möglichst viele Freunde zu haben. Zeig mir einen in Gaza, der nach diesen Prinzipien lebt!“, ruft er.

Israelische Geiseln in Gaza: „Shay steht für Deutschland!“

Da ist auch Arbel Yehoud. Die 28-Jährige wurde zusammen mit ihrem Bruder Dolev, einem vierfachen Vater, und ihrem Freund Ariel Cunio aus dem Kibbuz Nir Oz entführt. Ihr Vater Yehiel Yehoud beschreibt sie als sensible junge Frau. Die Berichte über sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen durch die Hamas-Terroristen haben ihn schockiert. Er stellt sich vor, wie seine Tochter nach ihm ruft: „Abba, wo bist du?“ – und er kann ihr nicht helfen.

Yehiel Yehoud, Vater der Geiseln Dolev und Arbel Yehoud, fürchtet, dass seine Tochter von den Hamas-Terroristen missbraucht wurde.
Yehiel Yehoud, Vater der Geiseln Dolev und Arbel Yehoud, fürchtet, dass seine Tochter von den Hamas-Terroristen missbraucht wurde. © DPA Images | Christoph Soeder

Da ist Shay Levinson. Auch er ist 19 Jahre alt. Erst im Herbst hatte er mit seinen Eltern Berlin besucht. Nun sitzt seine Mutter Schlomit Levinson in der Botschaft und spricht über ihren Sohn: „Was ihn am besten beschreibt, ist ‚Entschlossenheit‘.“ Shay Levinson hatte einen Panzer an der Grenze zum Gazastreifen gefahren, zusammen mit zwei anderen Soldaten. Hamas-Terroristen griffen den Panzer am 7. Oktober an, die anderen beiden Soldaten wurden verletzt, Shay fiel herunter und gilt seither als vermisst. Schlomit Levinson macht eine Gleichung auf: „Shay steht für Entschlossenheit. Deutschland steht für Entschlossenheit. Shay steht für Deutschland.“ Und sie hat einen Traum: „Wenn wir das nächste Mal nach Berlin kommen, soll Shay mit dabei sein.“

Da ist auch Itay Chen. Er ist ebenfalls 19, wie Tamir und Shay. Seine Mutter Hagit berichtet von seiner Leidenschaft, dem Basketball. Sie hat seine erste Medaille für ein Profispiel mitgebracht und hält sie in die Kameras. „Basketball ist sein Leben“, sagt sie. Am zweiten Februar hat Itay Geburtstag und wird 20 Jahre alt. Dass er diesen Tag nicht erleben könnte, darüber will hier niemand nachdenken. „Ich will, dass dieser Tag sein Homecoming Day wird“, sagt Hagit Chen.

Israel: Erneuter Gefangenenaustausch steht derzeit nicht zur Debatte

Es sind vier Geschichten, wie zahlreiche Familien in Israel sie zu berichten haben. Voll von Fassungslosigkeit, Trauer und Schock. Noch immer befinden sich nach Schätzung Israels mehr als 130 Geiseln im Gazastreifen, von denen aber rund 25 wohl nicht mehr am Leben sind. Im November waren während einer Feuerpause 105 israelische Geiseln freigekommen, im Gegenzug für 240 palästinensische Gefangene. Ein erneuter Gefangenenaustausch steht derzeit nicht zur Debatte.

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Israel geht unterdessen mit voller Härte gegen die islamistische Hamas vor. Immer wieder findet die Armee neue Belege dafür, wie die Hamas Zivilisten als Schutzschilde missbraucht. Bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen sollen inzwischen mehr als 24.000 Menschen getötet worden sein. Auch Geiseln waren schon darunter. Sind Sie zufrieden mit dem Vorgehen der israelischen Regierung? Tamirs Vater Alon Nimrodi schüttelt traurig den Kopf. „Nein“, sagt er auf Englisch. Aber mehr könne er nicht sagen – er fürchtet um die Sicherheit der Geiseln.

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Hamas-Geiseln im Gazastreifen: „Er sah aus, als würde er dahinschwinden“

Die Familien danken der Bundesregierung für ihre Bemühungen, die Geiseln freizubekommen. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überbringen sie später diese Botschaft. Und sie wollen, dass der Druck auf die Hamas nicht nachlässt. Efrat Machikawa fordert die Ampel-Koalition auf, sich bei der Regierung von Katar für einen Geisel-Deal starkzumachen. Katar übernimmt in den Verhandlungen mit der Hamas eine Vermittlerrolle. „Terrorismus“, sagt Efrat Machikawa, „ist ein globales Problem, nicht ein israelisches. Es könntet auch ihr sein, auch eure Familien!“

Efrat Machikawa zeigt eine Sanduhr. Sie soll veranschaulichen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Geiseln zu befreien.
Efrat Machikawa zeigt eine Sanduhr. Sie soll veranschaulichen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Geiseln zu befreien. © DPA Images | Christoph Soeder

Mitte November hat die Hamas ein Video von Machikawas Onkel Gadi veröffentlicht. Der alte Mann habe schrecklich ausgesehen, erinnert sie sich. „So dünn, so gestresst und ganz anders als sonst. Ich brauchte mindestens eine Minute, um ihn zu erkennen. Er sah aus, als würde er dahinschwinden.“ Als sie ihren Bericht beendet, sind die letzten Sandkörnchen am Boden der Sanduhr angekommen. Yehiel Yehoud, Arbels Vater, bricht in Tränen aus.

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