Berlin. Im April soll Deutschland aus der Kernkraft aussteigen, endgültig. Doch es gibt Zweifel an dem Plan – nicht nur bei der Opposition.

Eigentlich ist der Atomausstieg in Deutschland beschlossene Sache, doch angesichts der Energiekrise schwelt die Debatte über einen möglichen Weiterbetrieb der verbliebenen Meiler weiter. Nun fordert die Union, das hiesige Stromsystem mit Blick auf den Winter 2023/2024 abermals einem Stresstest zu unterziehen. Ein Überblick.

Wie lautet die Beschlusslage beim Atomausstieg?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beendete im vergangenen Oktober per Machtwort einen erbittert ausgetragenen regierungsinternen Streit über den Weiterbetrieb der drei verbliebenen Kraftwerke – zumindest vorübergehend: Er machte von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und ordnete an, dass alle drei Meiler bis längstens Mitte April 2023 Strom produzieren sollen. Geltende Rechtslage war bis dahin ein Atomausstieg Ende 2022. Der Bundestag beschloss die von Scholz vorgegebene Laufzeitverlängerung um dreieinhalb Monate dann im November.

Die Debatte ist damit aber noch nicht beendet: Aus FDP, Union und der Wirtschaft kommen immer wieder Forderungen, den endgültigen Ausstieg abermals nach hinten zu verschieben. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) zeigte sich Anfang dieser Woche darüber genervt: „Wir sollten es definitiv bei der letzten Verlängerung bis April 2023 belassen, diese Debatte beenden und den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen“, sagte sie der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Was fordert jetzt die Union?

CDU-Vize Andreas Jung sagte unserer Redaktion, dass wegen der Energieknappheit die Atomenergie voraussichtlich bis 2024 gebraucht werde. Der kommende Winter könne noch kritischer werden als der gegenwärtige. Deshalb müsse jetzt abermals die Belastungsfähigkeit des Stromsystems geprüft werden. „So wie die Regierung einen Stresstest für diesen Winter gemacht hat, muss sie auch einen für den nächsten Winter machen.“ Dabei müsse umfassend untersucht werden, wie die Stromversorgung jederzeit sichergestellt werden kann – auch unter Einbeziehung der Kapazitäten im Land, der Lage in Europa auch des Risikos eines Ausfalls von Stromleitungen in der Ostsee.

Jung sagte auch, es gehe der Union nicht um ein Rütteln an den Grundsatzentscheidungen zum Ausstieg aus Atomkraft und Kohleverstromung. Vielmehr gehe es darum, in der Krise alles zum Abwenden von Notlagen zu mobilisieren. „Es passt nicht zusammen, dass die Ampel mindestens bis 2024 klimaschädliche Kohlemeiler reaktiviert, aber die CO2-sparenden Kernkraftwerke im Frühjahr 2023 definitiv abschalten will. Diese kohlelastige Krisenpolitik der Ampel stellt die Energiesicherheit infrage und beschädigt den Klimaschutz.“

Der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren sei notwendig und müsse parallel vorangetrieben werden, betonte der CDU-Vize. Zu den jüngsten Einlassungen von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas meinte er: „Die notwendige Debatte über sichere Energie im kommenden Winter kann durch ein Basta von Bärbel Bas so wenig beendet werden wie durch die Richtlinien-Entscheidung von Olaf Scholz.“

Jung ist nicht allein mit der Annahme, dass Kernkraft in Deutschland auch nach dem April noch gebraucht werden könnte. Auch Ulrike Malmendier, „Wirtschaftsweise“ der Bundesregierung, hält einen Weiterbetrieb für sinnvoll. „Der Winter 2023/2024 wird nicht unbedingt leichter“, sagte die Ökonomin von der US-Universität Berkeley dem „Handelsblatt“. „Deswegen gilt es, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, und da gehören die Atomkraftwerke dazu.“ Die Entscheidung müsse nun rasch getroffen werden, damit die Betreiber sich darauf vorbereiten und neue Brennstäbe beschaffen könnten.

Wie viel Strom liefern die Akw noch?

Nach Zahlen des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme ISE lag der Anteil von Kernenergie an der Stromerzeugung im Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt bei 6,7 Prozent. An einigen extrem wind- und sonnenschwachen Tagen im Dezember produzierten die Atomkraftwerke dabei fast so viel Strom wie Wind- und Solarenergie.

In den ersten Januarwochen gibt es allerdings weniger Atomstrom in Deutschland – EnBW hat das Kraftwerk in Neckarwestheim für einige Tage vom Netzgenommen, um die Brennelemente neu zusammenzusetzen. So soll der Meiler fit gemacht werden für die verlängerte Laufzeit bis Mitte April.

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Was ist die Position der Ampel-Koalition?

Die Regierung präsentiert sich erneut uneinig, wenn es um Atomkraft geht. Die FDP macht keinen Hehl daraus, dass sie einen Weiterbetrieb der Anlagen auch über den April hinaus für richtig hält. Zuletzt argumentierten die Liberalen, allen voran Verkehrsminister Volker Wissing, dabei mit klimapolitischen Gesichtspunkten: Atomkraft könne dazu beitragen, den mit zunehmender Elektromobilität steigenden Strombedarf zu decken.

Beim grünen Koalitionspartner hat man dafür wenig Geduld: „Atomkraft ist teuer und gefährlich, deswegen schalten wir die letzten Atomkraftwerke in Deutschland am 15.4.2023 endgültig ab“, sagte Julia Verlinden, Vize-Chefin der grünen Fraktion im Bundestag, dieser Redaktion. „Jeder weitere Versuch mit immer neuen fadenscheinigen Begründungen eine Verlängerung von Laufzeiten in die Debatte zu bringen wird scheitern und verschwendet unnötig Energie.“ 2023 würden jeweils mehrere Gigawatt Windkraft und Solarenergie zusätzlich ans Netz gehen, Biogasanlagen würden Flexibilität im Strommarkt zur Verfügung stellen. „Wir sind also gut aufgestellt für die Stromversorgung im kommenden Winter.“