Berlin. Von Bachmut ist nicht viel übrig. Ein Evakuierungsfahrer erzählt, warum einige dennoch ausharren – und er für sie sein Leben riskiert.

Kurz nach Beginn des Krieges kommt Ignatius Ivlev-Yorke als Freiwilliger in die Ukraine. Der 27-Jährige will nicht kämpfen, sondern die Folgen der russischen Invasion dokumentieren. In Irpin fotografiert er eine getötete Frau, das Bild ihrer Hand mit einem Schlüsselanhänger in EU-Farben geht um die Welt. Einer von Russen vergewaltigten Ukrainerin verhilft er später zur Flucht nach Österreich – auch diese Erfahrung prägt ihn.

Ivlev-Yorke beschließt, sich einem Team von Evakuierungsfahrern anzuschließen, die Menschen aus den umkämpften Gebieten im Donbass retten. Ein lebensgefährlicher Job,finanziert allein über Spenden. Im Interview erzählt er, wie er sich auf seine Missionen vorbereitet, was ihn frustriert – und warum es noch immer Menschen gibt, die nicht raus wollen aus der Hölle Bachmut.

Was glauben Sie, wie viele Zivilisten noch in Bachmut ausharren?

Ignatius Ivlev-Yorke: Ein paar tausend vielleicht, aber definitiv nicht mehr als 4000. Die Russen haben inzwischen 40 bis 50 Prozent der Stadt eingenommen. In den Gebieten, die sie kontrollieren, werden alle verbliebenen Einwohner zwangsevakuiert. Niemand darf in der Stadt bleiben. Ich schätze, dass sie mindestens eintausend Menschen aus der Stadt und der Umgebung weggebracht haben.

Wann waren Sie zuletzt in Bachmut?

Ivlev-Yorke: Vor drei Tagen. Die Stadt ist eigentlich seit Ende Februar gesperrt, weil es zu gefährlich geworden ist, hineinzufahren. Es war schon vorher sehr riskant, weil es nur noch zwei intakte Straßen nach Bachmut gab. Auf einer davon wurde jetzt eine Brücke gesprengt. Die russischen Truppen sind nur noch etwa 300 Meter davon entfernt. Das war die Straße, die wir in der Regel für unsere Fahrten genutzt haben. Jetzt bleibt uns nur noch eine Straße, und auf der ist man der russischen Artillerie praktisch schutzlos ausgeliefert.

Ignatius Ivlev-Yorke nach einer Evakuierungsfahrt im Sommer 2022 im Donbass.
Ignatius Ivlev-Yorke nach einer Evakuierungsfahrt im Sommer 2022 im Donbass. © Twitter/@IvlevYorke | Twitter/@IvlevYorke

Ivlev-Yorke evakuiert Menschen aus der Ukraine: So gefährlich ist die Rettung im Kriegsgebiet

Trotzdem sind sie hineingefahren?

Ivlev-Yorke: Ja, sind wir. Eigentlich sollte das Militär einige Bewohner rausbringen. Aber ihr Auto ist liegengeblieben. Die ganze Zeit gab es Beschuss. Wir wurden nur knapp von einer Rakete verfehlt.

Wie viele Menschen haben sie rausgeholt?

Ivlev-Yorke: Drei. Sie kamen alle aus einer Familie. Der Sohn war 39, er wurde in seinem Apartment getötet. Wir haben seinen Leichnam mitgenommen. Die Großmutter wollte nicht gehen, obwohl die ganze Familie geflohen ist. Ziemlich verrückt, dass sie trotzdem bleiben wollte.

Das heißt, es kann jetzt eigentlich niemand mehr aus der Stadt hinaus?

Ivlev-Yorke: Es zu versuchen, ist auf jeden Fall sehr gefährlich. Und ehrlich gesagt: Wir haben jetzt über mehrere Monate Fahrten nach Bachmut gemacht, um die Leute dort herauszuholen. Sie hatten sehr oft die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. In der jetzigen Situation müssen wir aber auch darüber nachdenken, ob es für uns selbst – und für die Zivilisten – noch zu verantworten ist, solche Risiken einzugehen. Es könnte aktuell sicherer sein, wenn sich die Leute im Keller verschanzen als auf der Straße zu sein.

Evakuierung in der Ukraine: Ivlev-Yorke erzählt von seiner riskanten Arbeit

Wie läuft so eine Evakuierung ab?

Ivlev-Yorke: In der Regel haben wir feste Sammelpunkte, wo wir die Leute abholen. Sie melden sich meist per Telefon bei uns und warten dann dort. Eine unserer letzten Evakuierungen aus Bachmut verlief aber wegen der gesprengten Brücke etwas anders. Die Leute hatten sich von zwei ukrainischen Soldaten bis zur Brücke fahren lassen, dann waren sie zu Fuß zum anderen Ufer gelaufen – und dort sollte sie ein ganz normaler Taxifahrer bis zur nächsten Stadt mitnehmen. Aber es gab im Taxi nicht genug Platz für alle. Sie mussten also einen Mann zurücklassen. Er war etwa 80 Jahre alt und konnte kaum laufen. Wir trafen seine Frau, als sie ankam – und sie war in Tränen aufgelöst. Der Taxifahrer wollte nicht noch einmal zurück und ihn holen. Das war ihm zu gefährlich. Also sind wir, mein Teamkollege Oleg und ich, hingefahren und haben ihn geholt. Die Frau war überglücklich.

Rauch steigt auf aus brennenden Häusern in Bachmut, dem Ort schwerer Kämpfe in der Region Donezk.
Rauch steigt auf aus brennenden Häusern in Bachmut, dem Ort schwerer Kämpfe in der Region Donezk. © dpa | Libkos

Wie geht es dem Mann?

Ivlev-Yorke: Beiden geht es gut. Aber stellen Sie sich vor, dass sie 80 Jahre alt sind und es endlich aus Bachmut herausgeschafft haben. Sie haben nichts mehr. Vor Ihnen liegt das absolut Unbekannte. Und dann müssen Sie ihren Mann am Straßenrand zurücklassen, weil es nicht genug Platz im Auto gibt. Das ist absolut schrecklich.

Wie bereiten Sie sich vor auf eine solche Evakuierung?

Ivlev-Yorke: Wir setzen unsere Helme auf, legen die Schutzausrüstung an und fahren los.

Haben Sie auch Waffen, um sich im Zweifel zu verteidigen?

Ivlev-Yorke: Nein, wenn wir beschossen werden, haben wir Pech gehabt.

Ivlev-Yorke und weitere Teams retteten Tausende Menschen: "Anderen zu helfen, ist nicht das Schlechteste"

Haben Sie keine Angst davor, von den Russen gefangen genommen zu werden?

Ivlev-Yorke: Eigentlich nicht. Wenn ich ständig nur nach meinen Ängsten handeln würde, könnte ich diesen Job nicht machen. Wir bereiten uns vor, so gut es eben geht. Aber man kann sich nicht darauf vorbereiten, gefangen genommen zu werden. Und wenn ich getötet werde, war’s das – Ende der Geschichte. Das soll nicht heißen, dass es mir egal ist. Ich will nicht sterben. Die Frage ist aber, was man mit seinem Leben anfängt. Und ich glaube, anderen zu helfen, ist nicht das Schlechteste.

Mit Sicherheit nicht. Wie viele Menschen haben Sie gerettet?

Ivlev-Yorke: Über die letzten Monate gerechnet waren es etwa 4000 im gesamten Donbass, nicht nur in Bachmut. Das war aber nicht nur ich, sondern viele andere Leute in verschiedenen Teams.

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Manche Menschen wollen Bachmut nicht verlassen: Was den Retter besonders frustriert

Warum gibt es überhaupt noch Menschen, die Bachmut nicht verlassen wollen?

Ivlev-Yorke: Dafür gibt es mehrere Gründe. Einige denken, dass sie nirgendwo anders hingehen können. Sie glauben nicht, dass ihnen geholfen wird – auch nicht von der Regierung. Andere wollen ihr Haus nicht verlassen, weil sie Angst davor haben, dass jemand kommt und ihre Sachen stiehlt. Einige wenige sind so abgestumpft, dass sie sagen: Wenn ich hier sterben soll, dann sterbe ich eben hier. Und es gibt auch welche, die denken, dass alles besser wird, wenn die Russen da sind – dass sie ein wundervolles Leben haben werden im schönen Bachmut. Aber das wird natürlich nicht passieren.

Wie frustrierend ist das für Sie?

Ivlev-Yorke: Zu sehen, wie die Leute ihr Leben wegwerfen, das frustriert mich schon. Sie haben dort keine Zukunft. Wenn sie gehen, haben sie zumindest eine Chance. Es muss auch gar nicht unbedingt sein, dass sie in Bachmut getötet werden, vielleicht überleben sie. Aber was vor ihnen liegt, ist nichts Gutes. Manche glauben sogar, dass sie es nicht wert seien, gerettet zu werden. Niemand brauche sie. Zumindest haben die meisten Kinder die Stadt verlassen, es waren vielleicht noch 30 oder 40. Es geht zwar das Gerücht um, dass ein paar Eltern ihre Kinder in Kellern verstecken. Das kann ich aber nicht bestätigen. Wenn es stimmt, wäre das sehr frustrierend. Die Kinder können nicht selbst entscheiden, sie sind ja abhängig von ihren Eltern.

Im Donbass haben Evakuierungsfahrer seit Beginn des Krieges etwa 4000 Menschen - darunter viele Kinder - aus umkämpften Gebieten gerettet.
Im Donbass haben Evakuierungsfahrer seit Beginn des Krieges etwa 4000 Menschen - darunter viele Kinder - aus umkämpften Gebieten gerettet. © Getty Images | John Moore

Gibt es auch Menschen, die bleiben müssen?

Ivlev-Yorke: Es gibt einige, die nicht wegwollen, weil sie noch Familienmitglieder oder Verwandte in der Stadt haben. Diese Leute müssen sehr schwere Entscheidungen treffen. Wir haben eine Frau getroffen, deren Schwester uns angerufen hatte. Die Frau wollte zuerst nicht evakuiert werden, weil ihr Vater nicht gehen wollte. Er war 86 Jahre alt. Sie sagte, sie könne ihren Vater nicht allein lassen. Er konnte kaum alleine laufen. Wir haben ihr gesagt, dass sie erfrieren wird, wenn sie nicht mitkommt. Es war sehr kalt in der Woche. Am Ende kam sie mit, er wollte trotzdem nicht – und dann ist er erfroren.

Unter welchen Umständen würden Sie aufhören mit den Evakuierungen?

Ivlev-Yorke: Wenn ich schwer verletzt oder getötet werden würde, hätte ich wohl keine Wahl mehr.

Sie waren nicht nur in Bachmut, sondern auch in Irpin und Lyman, wo Menschen gefoltert oder hingerichtet wurden. Wie denken Sie über Friedensverhandlungen mit Russland?

Ivlev-Yorke: Ich interessiere mich eigentlich nicht für Politik, ich bin auch kein Ukrainer. Mein Vater ist Brite, meine Mutter kommt aus Russland, ich habe auch eine Weile dort gelebt. Es wird sicher schwer werden, über Frieden zu reden, wenn man sieht, wie viele Menschen gestorben sind – zumal es ja in Teilen darum geht, sich zu ergeben. Aber ich bin nicht in der Position zu entscheiden, was die Ukrainer tun sollten.

Werden Sie die Ukraine irgendwann verlassen?

Ivlev-Yorke: Ja, ich denke schon. Mein Plan ist nicht, für immer zu bleiben. Keine Ahnung, was ich nach dem Krieg machen werde – aber es wird schwer werden, das hier zu toppen.