Berlin. Der Medienwissenschaftler Stefan Weber hat kopierte Stellen im Buch der Grünen-Politikerin entlarvt. Nun gerät er selbst in die Kritik.

Die Geschäfte des selbsternannten "Plagiatsjägers" laufen gut. Vor allem seit vergangenem Jahr. Stefan Weber hatte die Diplomarbeit der österreichischen Arbeitsministerin Christine Aschbacher (ÖVP) auseinandergenommen. Er entdeckte "Plagiate, falsche Zitate und mangelnde Deutschkenntnisse". Weber prüfte auch Aschbachers Doktorarbeit. Die Folge: Die Ministerin musste zurücktreten.

Seitdem hätten sich die Aufträge und Anfragen an den Wiener Blogger und Kommunikationswissenschaftler vervielfacht, wie er sagt. Erst war er allein, nun baute er ein Team auf, heuerte zwei Privatdetektive an, engagierte Akademiker als "Kooperationspartner", die ihm helfen, Doktorarbeiten, gerichtliche oder medizinische Gutachten auf Plagiate zu durchforsten.

Seit dem Fall Baerbock: "Plagiatsjäger" untersucht jetzt auch Lebensläufe

Seit einigen Wochen hat Weber auf seiner Webseite ein neues Geschäftsfeld eröffnet: das "Lebenslauf-Screening". Weber bestätigt Recherchen unserer Redaktion, wonach er dies erst seit einigen Wochen offiziell anbietet. Seit dem Fall Annalena Baerbock. Lesen Sie dazu: Baerbock: Plagiatsvorwürfe gegen Grünen-Chefin - Partei schaltet Anwalt ein

Der Österreicher Weber veröffentlicht seit Mitte Mai regelmäßig Einträge zu Baerbock im Internet, auf dem Blog seiner Firma. Für Außenstehende kaum zu erkennen ist: Laut Weber ist der Blog gar nicht offiziell Teil seiner Gutachter-Webseite. Die Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock sei sein "eigenes investigatives Hobby", sagt Weber.

Weber spricht von "schweren Plagiatsvorwürfen", die Grünen von "Rufmord"

Am Dienstag veröffentlicht Weber einen Blogeintrag mit fünf Passagen aus Baerbocks Buch "Jetzt". Bis heute sind es insgesamt 15 Textteile auf 240 Seiten, manchmal ganze Absätze, manchmal nur anderthalb Sätze, in denen Baerbock aus anderen Quellen Bausteine wortwörtlich oder etwas abgewandelt übernimmt, ohne dies zu kennzeichnen.

Weber erhebt "schwere Plagiatsvorwürfe" gegen Baerbock. Seit Tagen ist Baerbocks Buch nun in den Schlagzeilen, in den sozialen Netzwerken ist "baerplag" Trend. Die Grünen sprechen von "versuchtem Rufmord", sehen ihre Spitzenkandidatin im Trommelfeuer einer "Kampagne".

Plagiatsvorwürfe: Der Schaden für Baerbock und die Grünen ist groß

Es geht wohl eher um eine moralische als um eine rechtliche Frage. Mehr um Schlamperei als um Urheberrecht. Baerbock hat keine Dissertation geschrieben, sondern ein Sachbuch. Weber nennt bisher zudem nur wenige Stellen. Und dort sind eher allgemein zugängliche Informationen kopiert. Zum Vergleich: Bei der Doktorarbeit von CSU-Politiker zu Guttenberg waren es kopierte Stellen auf fast jeder Seite. Und für wissenschaftliche Arbeiten gelten viel striktere Standards beim Zitieren als für Bücher.

Und doch ist der Schaden für Baerbock groß, ihre Glaubwürdigkeit nach der Debatte um ihren ungenauen und teilweise aufgehübschten Lebenslauf und die nicht gemeldeten Nebeneinkünfte im Bundestag weiter angekratzt.

Auf der einen Seite wächst die Kritik am Umgang der Grünen mit dem Fall. Ein Grüner sieht schon einen "rechten Propagandakrieg" aufziehen. Die Partei wirkt angefasst und nervös. Sogar Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz grätschte per Twitter rein – gegen den rigiden Ton in seiner eigenen Partei: "Die Presse in Deutschland ist frei und kritisch - und bürstet manchmal hart gegen den Strich. Und das ist gut so."

Und doch wächst auch die Kritik an Webers Vorgehen. Als "unseriös" und "besessen" beschreibt der Bremer Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano Webers Agieren. Fischer-Lescano hatte damals die plagiierte Doktorarbeit von Guttenberg entlarvt. Dass Weber nun "scheibchenweise" weitere Textpassagen mit angeblichen Plagiatsstellen veröffentliche, nähre den Verdacht einer "Kampagne gegen Frau Baerbock", so Fischer-Lescano.

Und selbst einzelne Politiker der Konkurrenz schreiben: "Kommt Leute! Regt Euch ab! Es gibt echt Wichtigeres", wie etwa FDP-Geschäftsführer Marco Buschmann.

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Stefan Weber: Wer ist der "Plagiatsjäger"?

Im Fokus ist zunehmend nicht mehr nur Baerbock, sondern auch "Plagiatsjäger" Weber. Er selbst spricht noch am Tag der Veröffentlichung davon, dass die Vorwürfe "noch nicht gravierend, aber auch nicht mehr harmlos" seien. Da läuft die Debatte bereits. Nun wirft er Baerbock Täuschung vor.

Wenn Weber Doktorarbeiten oder nun auch Lebensläufe durchforstet nach Urheberrechtsverletzungen, dann nimmt er Geld von seinen Auftraggebern: vier Euro pro Prüfseite bei eigenen Arbeiten, acht Euro bei fremden Texten. Oft seien Kanzleien seine Auftraggeber, manchmal auch Privatpersonen. Zum Beispiel: Ein Arzt pfuscht bei einer Operation, die Patientin will wissen, ob er wirklich einen Doktortitel hat. Oder: Ein Nachbarschaftsstreit vor Gericht, eine Seite will der anderen eins auswischen – und Weber geht in die Spur.

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Weber hat im Fall Baerbock wohl keinen Auftraggeber

Man kann Weber anonym kontaktieren, Hinweise geben, Aufträge erteilen. Immer wieder nimmt er auch prominente Politikerinnen und Politiker verschiedener Couleur ins Visier – bisher vor allem in Österreich. Im Bundestagswahlkampf befasst er sich bisher ausschließlich mit Baerbock, habe sich in den Fall "verbissen", wie er in einem Interview sagt.

Weber hebt hervor, dass er im Fall Baerbock und auch im Fall anderer Politik-Fälle nicht bezahlt werde und keinen Auftraggeber habe. Er selbst sagt, er "sympathisiere mit vielen Positionen der Grünen, etwa bei der Klimapolitik oder der Verkehrspolitik. Eine grüne Kanzlerin Baerbock halte ich aber nach alldem nicht mehr für vertretbar".

Und an eben dieser Frau Baerbock arbeitet Weber sich seit Wochen auf seinem "Blog für wissenschaftliche Redlichkeit" ab. Er brachte teilweise die Debatte um Baerbocks Lebenslauf mit ins Rollen, hatte nach eigenen Angaben einen Hinweis bekommen, dem er nachgegangen sei. Er musste aber auch Fehlmeldungen zugeben.

Plagiatsvorwürfe: Organisierte Kampagne gegen Baerbock?

Manche seiner Beiträge tragen zudem auffällig polemische Titel wie "Die fabulierte Welt der Annalena" oder "Die sakrosankte Masterthesis der Bundeskanzlerin in spe". Dies mache er eher als Journalist und weniger als Gutachter, sagt Weber. Der Blog auf seiner Webseite, wo er auch die Plagiatsvorwürfe gegen Baerbock erhoben hat, sei seine "journalistische Spielwiese".

Noch etwas ist pikant: Der Gründer der renommierten Rechercheplattform "vroniplag", Martin Heidingsfelder, hat laut einem Bericht des Nachrichtenportals T-Online einen Anruf eines "alten Bekannten" erhalten, der eine "Kampagne gegen Baerbock" starten wollte. Der Plagiatsgutachter Heidingsfelder lehnte laut dem Bericht ab. Weber selbst will von einem angeblichen Drahtzieher einer Kampagne nichts wissen – und veröffentlichte eine E-Mail mit dem mutmaßlichen Tippgeber, der ihn erstmals auf Ungereimtheiten im Baerbock-Lebenslauf hingewiesen habe.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wird vorgeworfen, in ihrem Buch aus anderen Medien abgeschrieben zu haben.
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wird vorgeworfen, in ihrem Buch aus anderen Medien abgeschrieben zu haben. © dpa

Prüfung von Texten auf Plagiaten – Branche wächst mit dem Internet

Der "Plagiatsjäger" nutzt für seine Plagiatsvorwürfe die Software Turnitin. Eine Doktorarbeit oder ein Buch gleicht das Programm mit Datenbanken ab, und sucht nach identischen, schon vorhandenen Textbausteinen. Eine halbe Stunde dauere das, sagt Weber. Danach müsse das Ergebnis noch bewertet werden, weiteres gehe dann nur "händisch" per Suchmaschine im Internet.

Weber gehört neben einzelnen weiteren Akteuren zu einer Branche, die mit dem Internet gewachsen ist. Vieles ist frei verfügbar, vieles einfach zu finden. Damit wird auch Betrügen einfacher.

Werden Doktorarbeiten an Universitäten überprüft, wie zuletzt etwa die Arbeit von Ex-Familienministerin Giffey, dann arbeiten Hochschulkommissionen wochenlang an dem Fall. Sie prüfen jede einzelne Fußnote, es gilt die Zitierpflicht. Weber sei ihm bei diesen akademischen Prüfvorgängen noch nicht aufgefallen, sagt ein Professor einer Universität, der selbst jahrelange Erfahrung bei der Prüfung von wissenschaftlichen Arbeiten hat.

Zu den Plagiatsvorwürfen habe Weber die Grünen-Kanzlerkandidatin vor der Veröffentlichung nicht mehr angefragt, sagt er und begründet dies damit, dass Baerbock zu Fragen zum Lebenslauf "erst zwei Wochen später" und nicht "konkret" geantwortet habe.

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Grünen-Chefin Baerbock: "Ich habe kein Sachbuch geschrieben"

Die Grünen haben Medienanwalt Christian Schertz um eine Stellungnahme in dem Fall gebeten. Der Anwalt sagt, er könne "nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen". Vielmehr sehe Schertz den "Versuch einer Kampagne zum Nachteil von Frau Baerbock".

Plagiatsprüfer Weber will weitermachen mit seinem "investigativen Hobby". Er kündigte einen Endbericht zum Buch von Baerbock an. Und er will sich nun auch die Masterarbeit der Grünen-Politikerin von der renommierten London School of Economics vornehmen. Bisher verweigert die Universität offenbar die Herausgabe.

Baerbock selbst äußerte sich am Donnerstagabend zu den Vorwürfen und wies diese zurück. "Ganz viele Ideen von anderen sind mit eingeflossen", sagte Baerbock am Donnerstagabend in einem Gespräch mit Journalistinnen der Zeitschrift "Brigitte" in Berlin. "Aber ich habe kein Sachbuch oder so geschrieben, sondern das, was ich mit diesem Land machen will - und auf der anderen Seite die Welt beschrieben, wie sie ist, anhand von Fakten und Realitäten."

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