Berlin/Kabul. Kundus ist an die Taliban gefallen. Nur das ehemalige deutsche Feldlager ist noch in Regierungshand. Wohin ziehen die Islamisten nun?

Die Taliban setzen ihre Blitzoffensive im Norden Afghanistans fort: Allein am Sonntag eroberte die radikalislamische Miliz drei Provinzhauptstädte, darunter die Stadt Kundus, in deren Nähe die Bundeswehr jahrelang ein großes Feldlager unterhalten hatte. Damit fielen innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte in die Hände der Islamisten.

Kundus sei "nach heftigen Kämpfen" in ihrer Hand, erklärten die Taliban am Sonntag. Abgeordnete und Bewohner bestätigten die Einnahme. Am selben Tag nahmen die Aufständischen Sar-i-Pul, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten, sowie Talokan, die Hauptstadt der Provinz Tachar im Nordosten Afghanistans ein.

Am Freitag war schon Sarandsch in Nimrus an der iranischen Grenze gefallen - praktisch kampflos. Am Samstag folgte Schiberghan in Dschausdschan im Norden, Machtsitz des ehemaligen Kriegsfürsten und Ex-Vizepräsidenten Abdul Raschid Dostum.

Die Taliban haben seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai bereits weite Teile des Landes erobert. Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Kundus ist ihr bislang größter Erfolg.

Kundus: Bundewehr kämpfte fast ein Jahrzehnt von hier

Während des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan war die Bundeswehr rund ein Jahrzehnt lang in Kundus stationiert. Von 2003 bis 2013 überwachten deutsche Soldaten vom Feldlager Kundus aus die Sicherheit im Norden des Landes. Bis Ende November 2020 waren noch rund 100 Bundeswehrsoldaten im "Camp Pamir" als Ausbilder für die afghanischen Streitkräfte vor Ort. Hier lieferten sich deutsche Soldaten stundenlange Gefechte mit den Taliban. Nirgendwo fielen mehr Deutsche als in Kundus und der Nachbarprovinz Baghlan.

Als die Bundeswehr 2013 zum ersten Mal aus Kundus abzog, sagte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU): "Kundus, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste, zu kämpfen. Das war eine Zäsur - nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft." Nun ist Kundus eine von fünf Provinzhauptstädten, die die Islamisten binnen drei Tagen erobern.

Bundeswehrsoldaten im Einsatz nahe Kundus. Archivbild, 19. August 2011.
Bundeswehrsoldaten im Einsatz nahe Kundus. Archivbild, 19. August 2011. © dpa | Maurizio Gambarini

Taliban: Regierung hält nur noch ehemaliges Feldlager Kundus

Ende April wurde der Standort offiziell an das afghanische Militär übergeben. In genau diese Militärbasis in der Nähe des Flughafens, die jetzt das 217. afghanische Armeekorps beherbergt, hätten sich nun Sicherheitskräfte und Regierungsvertreter zurückgezogen, sagt Provinzrat Amruddin Wali.

Die Regierung halte nur noch ein Gebiet rund um den Flughafen und diese Basis. Am Sonntagnachmittag (Ortszeit) wurde in dem Gebiet rund um den Flughafen noch gekämpft. Lesen Sie den Kommentar: 20 Jahre in Afghanistan – War dieser Einsatz das alles wert?

Einheimischer berichtet: Kein Wasser, kein Strom, Stadt in Flammen

Schekib Salarsai braucht nicht viele Worte, um zu beschreiben, wie es in seiner Heimatstadt Kundus nun aussieht. "Totales Chaos", berichtet Salarsai, einer von 370.000 Menschen, die in der Großstadt in Afghanistans Norden zuhause sind, am Telefon.

"Die Leute von der Regierung sind geflohen. Die Taliban haben Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben weder Wasser noch Strom. Die Straßen sind gesperrt. Keiner kann die Verletzten in die Krankenhäuser bringen." In verschiedenen Teilen brennt die Stadt.

Der Verlust von Kundus wiegt für Afghanistans Regierung schwer. Die Stadt ist ein wichtiges Handelszentrum nahe der Grenze zum Nachbarland Tadschikistan. Die Taliban hatten sie bereits 2015 und 2016 kurzzeitig eingenommen. Beide Male wurden die Islamisten mit US-Luftangriffen zurückgedrängt. Auch aktuell fliegen die USA Luftschläge - noch. Lesen Sie auch: So lebt ein abgeschobener Flüchtling in Afghanistan

Afghanistan: US-Truppen praktisch abgezogen

Die US-Truppen sind praktisch schon abgezogen. Die Flieger steigen außerhalb Afghanistans auf. "Das heißt: Es gibt nicht mehr genügend Mittel, um jede angegriffene Stadt des Landes zu verteidigen", schrieb die "New York Times".

In weniger als drei Wochen endet die US-Militärmission offiziell. Bisher gab es noch kein Zugeständnis der USA, die afghanischen Sicherheitskräfte auch danach gegen die Taliban zu unterstützen. Am Sonntag war unklar, ob Regierungskräfte in einer großen Aktion die Rückeroberung von Kundus versuchen.

Beschädigte Geschäfte in Kundus. Die Einwohnenden leben nun in Angst und verlassen die Stadt.
Beschädigte Geschäfte in Kundus. Die Einwohnenden leben nun in Angst und verlassen die Stadt. © AP/dpa | Abdullah Sahil

Kundus: Eroberung schwere Niederlage für Afghanistans Regierung

Der Verlust kleinerer Provinzhauptstädte sei "für die Regierung in enormer Prestigeverlust, aber noch zu verschmerzen", meint der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Der Fall von Kundus hingegen "wiegt schwerer". Er könnte den Weg in die Hauptstadt öffnen, nach Kabul.

Man müsse allerdings die Frage stellen, ob die Taliban von Kundus überhaupt auf Kabul marschieren wollten oder müssten. Südlich der Hauptstadt kontrollieren sie schon seit langem die Provinzen Wardak und Logar gleich hinter dem Stadtrand. Sie könnten aber auf den Kollaps der Regierungstruppen spekulieren, die in den gefallenen Städten kaum Gegenwehr geleistet hätten, sagt Ruttig.

Salarsai, der Mann aus Kundus, sagt, er könne momentan keine Sicherheitskräfte sehen. Die Polizisten hätten ihre Waffen niedergelegt und liefen in ziviler Kleidung herum. Die Nachbarn seien alle dabei, ihre Sachen zu packen. Sie hätten Angst. (pcl/dpa)