Berlin. Anhänger des brasilianischen Ex-Präsidenten Bolsonaro haben den Kongress in Brasília gestürmt. Brasiliens Stabilität ist in Gefahr.

Der Schreck stand dem Präsidenten ins Gesicht geschrieben. Der Kopf rot, der Blick ungläubig. Man merkte, dass die Vorkommnisse in Brasilia auch den erfahrenen Politiker Lula da Silva ins Mark trafen und er darüber fast die Fassung verlor. Als er sich am Sonntagabend gefasst hatte, setzte er seine Brille auf, ließ sich das Mikrofon halten und setzte zu entscheidenden Sätzen an:

„So etwas hat es in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben“, sagte der linksliberale Präsident, der gerade erst seit einer Woche amtiert. Eine derartige Verachtung der Demokratie und der drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative sei einmalig. Lula, den der Sturm auf Kongress, Regierungssitz und Obersten Gerichtshof in der Hauptstadt Brasilia auf einer Reise durch den Bundesstaat São Paulo rund eintausend Kilometer entfernt ereilte, nannte die Täter „Vandalen“ und „Faschisten“. Und er versprach, sie mit der Härte des Gesetzes zur Verantwortung zu ziehen.

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Bolsonaro-Anhänger stürmen Kongress in Brasilien

Radikale Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro stürmten das Regierungsviertel in der brasilianischen Hauptstadt Brasília und brachten kurzzeitig die Schaltzentralen der wichtigsten Staatsgewalten des Landes unter ihre Kontrolle. Sie drangen am Sonntag (Ortszeit) in den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto ein und randalierten in Sitzungssälen und Büros.

Damit erfüllten sich am Sonntag die schlimmsten Befürchtungen der brasilianischen Demokraten, ein Déjà-vu des Sturms auf den US-Kongress am 6. Januar 2021, der Versuch also, einen verfassungsgemäßen und rechtmäßig erreichten Amtswechsel zu verhindern. Jair Bolsonaro, Lulas rechtsradikaler Vorgänger, hatte mit seinem Diskurs des systematischen Angriffs auf das Wahlsystem und die Wahlbehörden die Grundlagen für die Tausenden radikalen Anhänger gelegt, die am Sonntagnachmittag zum Sturm auf die Demokratie im größten und wichtigsten Land Lateinamerika ansetzten.

Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas gegen die Randalierer vor.
Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas gegen die Randalierer vor. © EVARISTO SA/AFP

Bolsonaro hatte bis zuletzt zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufgerufen. Daher warf Lula seinem Vorgänger am Sonntag auch direkt vor, zu der „Invasion der drei Gewalten“ angestachelt zu haben. Bolsonaro hatte in dem erbitterten Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigten Staaten kokettiert und behauptet, das brasilianische Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.

Brasilien: Demokratie in Gefahr – Land ist tief zerrissen

Bis 19 Uhr Ortszeit benötigten die Sicherheitskräfte, um die Sitze von Parlament, Regierungssitz und Oberstem Gerichtshof zurückzuerobern. Bis zum späten Abend waren rund 260 Vandalen festgenommen. Aber der Sturm auf die Institutionen der Demokratie wird noch lange nachwirken und mindestens die kommenden Monate das Land und seine 215 Millionen Einwohner in Atem halten. Und es zeigt sich jetzt, dass der hart erkämpfte und äußerst knappe Wahlsieg Lulas vor gut zwei Monaten wohl die leichtere Aufgabe war, verglichen mit dem, was den Präsidenten in den kommenden vier Jahren als Staatschef erwarten wird.

Radikale Anhänger von Brasiliens abgewähltem Präsidenten Bolsonaro dringen gewaltsam in Regierungsgebäude ein. Die Polizei kann sie zunächst nicht aufhalten.
Radikale Anhänger von Brasiliens abgewähltem Präsidenten Bolsonaro dringen gewaltsam in Regierungsgebäude ein. Die Polizei kann sie zunächst nicht aufhalten. © Matheus Alves./dpa

Die größte Demokratie Lateinamerikas ist ernsthaft in Gefahr. Der 77-Jährige Lula und seine Regierung brauchen jetzt die Unterstützung aller Demokratien der Region und die anderer großer Staaten, um die Unsicherheit der kommenden Wochen zu überstehen. Die Aggressoren vom Sonntag sind zwar nur die kleine, verblendete Minderheit der Bolsonaro-Adepten, die in ihrer eigenen Welt leben und Gewalt als ein legitimes Mittel erachten. Aber dennoch hat vor gut zwei Monaten fast die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer Bolsonaro gewählt.

Das südamerikanische Riesenland ist tief zerrissen. Der Demokratieverächter Bolsonaro hatte die Abstimmung gegen den zweimaligen Ex-Präsidenten Lula mit dem knappsten Ergebnis in der Geschichte Brasiliens verloren. Er unterlag seinem Herausforderer mit 49,1 Prozent. Der Unterschied zu Lula betrug gerade einmal zwei Millionen Stimmen. Fast die Hälfte der Brasilianerinnen und Brasilianer steht auf der Seite des Rechtsradikalen, die andere Hälfte hält Lula die Treue.

Brasilia: Hatte Bolsonaro den Sturm aufs Kapitol geplant?

Erst in den kommenden Tagen wird sich zeigen, wie dieser offenbar koordinierte Sturm von mehr als tausend Angreifern möglich war. Es gab sicher Duldung von Polizeikräften, möglicherweise sogar Kooperation. Als die Randalierer den Kongress stürmten, leisteten nur wenige Polizisten Widerstand. Laut Medienberichten griffen einige Polizisten nicht einmal ein und filmten den Angriff stattdessen mit ihren Mobiltelefonen. Wichtig ist auch die Frage, ob Bolsonaro aus den USA, wohin er vor dem Ende seines Mandats geflüchtet war, den Angriff auf die drei Gewalten zumindest mit geplant hat.

Mehr als sechs Stunden nach der Erstürmung der Regierungsgebäude meldete sich der Ex-Präsident in einem Video zu Wort. „Heute ist ein trauriger Tag für die brasilianische Nation. Wir können mit der Erstürmung des Nationalkongresses nicht einverstanden sein“, sagte der Vorsitzende von Bolsonaros Liberaler Partei (PL), Valdemar Costa Neto, in einem am Sonntag veröffentlichten Video. „Alle geordneten Demonstrationen sind legitim. Aber das Chaos hat nie zu den Grundsätzen unserer Nation gehört. Wir verurteilen dieses Verhalten aufs Schärfste. Das Recht muss durchgesetzt werden, um unsere Demokratie zu stärken.“

Bolsonaro kokettierte mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den USA

Zehntausende radikale Anhänger Bolsonaros hatten sich zum Teil gewaltsam gegen die Niederlage ihres Idols bei der Stichwahl Ende Oktober gestemmt und zunächst mit Straßenblockaden das größte Land Lateinamerikas lahmgelegt. Wochenlang belagerten sie zudem Kasernen der Streitkräfte im ganzen Land und forderten das Militär auf, die Amtsübergabe an den Linkspräsidenten Da Silva zu verhindern. Sie bezeichnen Lula als „Dieb“ und werfen ihm vor, die Wahl nur mit Betrug gewonnen zu haben. Dafür gibt es allerdings keinerlei Beweise.

Bolsonaro hatte die Abstimmung gegen den zweimaligen Ex-Präsidenten Lula mit dem knappsten Ergebnis in der Geschichte Brasiliens verloren. Er unterlag mit 49,1 Prozent seinem Herausforderer. Der Unterschied zu Lula betrug gerade einmal zwei Millionen Stimmen. Fast die Hälfte der 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer steht auf der Seite des Rechtsradikalen, die andere Hälfte hatte für Lula gestimmt.

Bolsonaro hatte in dem erbitterten Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigten Staaten kokettiert und behauptet, das Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.

Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro stürmen das Gebäude des Nationalkongresses.
Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro stürmen das Gebäude des Nationalkongresses. © Eraldo Peres/AP/dpa

USA und EU verurteilen Angriff

US-Präsident Joe Biden nannte die Vorfälle nach Angaben seiner Sprecherin „ungeheuerlich“. „Unsere Unterstützung für die demokratischen Institutionen Brasiliens ist unerschütterlich“, erklärte sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell stärkte der neuen Regierung von Lula den Rücken. „Die EU verurteilt die antidemokratischen Akte der Gewalt, die am Sonntag, den 8. Januar, im Herzen des Regierungsviertels von Brasília stattgefunden haben“, teilte Borrell am Sonntagabend mit. „Die brasilianische Demokratie wird über Gewalt und Extremismus siegen“, hieß es weiter.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich „entsetzt“ über die Erstürmung der drei Gebäude in Brasília durch „gewalttätige Extremisten“.

Der französische Staatschef Emmanuel Macron rief ebenfalls zur „Achtung der demokratischen Institutionen“ in Brasilien auf. In einem auf Französisch und Portugiesisch verfassten Tweet bekräftigte er die „unerschütterliche Unterstützung Frankreichs“ für Präsident Lula. Auch Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador und der argentinische Staatschef Alberto Fernandez sicherten ihrem brasilianischen Kollegen ihre Unterstützung zu.

Auch aus Deutschland gab es erste Reaktionen: Der SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil verurteilte die Anhänger des früheren brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro für ihre Stürmung des Regierungsviertels. „Im Namen der SPD verurteile ich die Attacken auf die demokratischen Institutionen Brasiliens aufs Schärfste“, schrieb Klingbeil am Sonntagabend im Kurznachrichtendienst Twitter. „Präsident Lula, unserer Schwesterpartei PT und den DemokratInnen in Brasilien gilt unsere volle Solidarität! Wir DemokratInnen stehen zusammen“, hieß es in dem Tweet weiter. Klingbeil wiederholte dieselbe Aussage in einem weiteren Tweet auf Portugiesisch. (mit dpa/bef)